Booktok-Büchertisch
Auch der stationäre Buchhandel wirbt mit Booktok. Es gibt eigene Büchertische und Regale mit unter dem Hashtag gehypten Titeln.
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Inhaltsangaben in einem Satz, Urteile, welche angesagten Bücher den Hype "wert sind", der Freund der Influencerin, der Buchcover danach bewerten muss, ob sie ihm gefallen, und Bücherstapel, die unter dem Motto "Populäre Bücher, die ich nicht mochte" oder (gefühlige Musik!) "Die traurigsten Bücher, die ich je gelesen habe" durchgeklaubt werden – all das ist Booktok. Tausende Views kann auch ein Clip generieren, in dem eine Booktokerin – also eine Betreiberin eines solchen Kanals – ein Buch in die Kamera hält, das das Publikum einlädt, eine Woche lang "mit ihr" zu lesen, und die täglich geschaffte Seitenzahl mitteilt. Musste man beim Lesen weinen? Das ist gut!

Immer weniger Menschen kaufen und lesen Bücher, die Produktionskosten sind zuletzt viel stärker gestiegen als die Verkaufspreise: Solche Meldungen rütteln die Buchbranche schon eine Weile durch. Der Hoffnungsschimmer am Horizont scheint Booktok zu sein.

Verlegen und bewerben

165 Milliarden Aufrufe zählt der Hashtag auf der vor allem von Menschen von 13 bis 25 Jahren genutzten (und wegen Datenschutzbedenken in der Kritik stehenden) Social-Media-Plattform Tiktok. 2020 in den USA groß geworden und über die Welt geschwappt, hat Booktok mit der Kraft der Community Stars wie Colleen Hoover hervorgebracht, die auch hierzulande vorderste Verkaufsränge belegen. Die stärksten Argumente? Erlebnisfaktor, Gefühl, Subjektivität, Kontakt, Nahbarkeit.

Warum nicht diese Macht nutzen? Das denkt sich der hinter Tiktok stehende chinesische Konzern Bytedance jetzt. Wie die New York Times berichtete, soll das Unternehmen planen, in die literarische Produktion einzusteigen. Mehrere Autorinnen und Autoren in den USA, die bisher im Eigenverlag Titel in den Genres Romance oder Fantasy (die sind auf Booktok am beliebtesten) veröffentlichen, haben demzufolge ein Angebot von Bytedance bekommen. Für ein paar Tausend Dollar sollten sie dem Konzern die Rechte an ihren Büchern verkaufen. Bytedance sagt nichts dazu, hat laut Recherche im April aber die Verlagsmarke 8th Note Press angemeldet.

Tiktok wäre damit nicht mehr die "neutrale" Plattform, als die es bisher auftritt, sondern hätte mit einem Verlag im Mutterkonzern selbst handfeste Verkaufsinteressen. Eine Sorge lautet, dass Bytedance, wenn es selbst Bücher verlegt und verkauft, sie gleichzeitig bewerben will. Also eigene Autoren und Clips über sie bevorzugt behandelt. Das berührt Fragen wie: Welche Videos gehen viral? Welche werden Nutzerinnen vorgeschlagen?

Für viele Verlage ist das beunruhigend, weil sich die Branche mit Booktok gut arrangiert hat. Nicht als Erste: Zuerst hat Tiktok den Musikmarkt verändert, indem es ermöglicht, Videos mit ein paar Sekunden Musik zu unterlegen. Die sollen naturgemäß knallen. Songwriter und Produzenten haben sich darauf eingestellt. Was auf Tiktok viral geht, wird auch Streaminghit.

Finden von Autoren

Verlagen geht es ähnlich. Viele stoßen durch Tiktok auf Eigenverlagsautoren, die sie unter Vertrag nehmen. Im deutschsprachigen Raum werden einige bei Tiktok-Erfolgen am US-Markt hellhörig und sichern sich Übersetzungsrechte. Dann zählt Geschwindigkeit, denn zum Hype gehört, dass Leser keine Scheu haben, zum schon verfügbaren englischen Original zu greifen.

Das Engagement lohnt sich. Im Juli vom Börsenverein des deutschen Buchhandels veröffentlichte Zahlen zeigen, dass, während die Zahl der 16- bis 29-jährigen Buchkäufer gesunken ist, jene der von ihnen pro Kopf gekauften Titel von 9,4 auf 11,7 kletterte und sie 2022 acht Prozent mehr ausgaben als 2017. Davon sei "mehr als jeder vierte (...) Euro von Social Media inspiriert".

"Booktok ist für uns in kurzer Zeit zu einer enorm wichtigen Plattform geworden", heißt es entsprechend von Piper zum STANDARD. Der Verlag betreibt einen Tiktok-Kanal, es gibt für Bücher die Aufkleber "Tiktok made me buy it", man versendet Rezensionsexemplare an Influencer, arbeitet in Kollaborationen "gerne mit ihnen zusammen". Damit ist Piper nicht allein, auch Penguin Random House, der Fischer-Jugendbuchverlag oder dtv (wo Colleen Hoover erscheint) machen das so. Die Booktoker hätten aber "absolut freie Hand in der Bewertung".

Handel reagiert auch

Buchhandlungen reagieren auf die Marktmacht mit Booktok-Büchertischen, der Onlinehandel mit der Kategorie "Booktok" auf der Website. Reizvoll für Verlage ist das zudem, weil Booktok nicht nur ­Neuerscheinungen ventiliert: Auch Backlists oder Klassiker, für die sonst nirgends mehr geworben wird, kommen vor und trenden. Ebenso Nischenprogramm: Frauen von 14 bis 25 sind Booktok-Hauptzielgruppe, es gibt aber Spezialisierungen wie #QueerBooktok. Tiktok selbst befeuert Hypes mit einem #BookClub oder, seit April, der monatlichen Liste der 20 auf der Plattform erfolgreichsten Bücher.

Ganz neu ist das nicht. Neben Booktok gibt es "Bookstagram" auf Instagram, seit 2010 im Geschäft sind "Booktuber" auf Youtube. Laut einer aktuellen britischen Studie sind sie für junge Kunden heute in etwa gleich wichtig. Und: Selbst von steigenden Lebenshaltungskosten wenig betroffen, sparen Teens seltener bei Büchern als andere Gruppen. (Michael Wurmitzer, 11.8.2023)