Was, wenn sie im Bett ihres Professors schlafen muss, er endlich seinen Gefühlen nachgibt und sie küsst?", postet Autorin Bianca Mov auf der Videoplattform Tiktok. Im Hintergrund sieht man das Bild einer jungen Frau mit schwarzer Schleife im Haar – und einen Mann mit nacktem Oberkörper, der sie gegen eine Wand drückt und küsst. Die Frage ist offenkundig rein rhetorisch. Der Clip läuft weiter, es folgen erotische Zitate aus Movs zweitem Buch Secret and Seduction. Mehr als 150.000 Menschen haben den Clip gesehen, in den Kommentaren fragen die Seherinnen und potenziellen Leserinnen (Gendern in diesem Fall fast nicht nötig), wo sie das Buch erhalten können. "Ich will mehr davon", schreibt eine. "Wann kommt Teil zwei?", fragt eine andere.

Die Grazer Autorin Bianca Mov orientiert sich an Genres, die in der Booktok-Community ziehen
Foto: J.J. Kucek, Reainer Wegscheidler

Leserinnenmarketing

Bianca Mov lebt in Graz, ist 26 Jahre alt, Lektorin, Übersetzerin – und seit wenigen Monaten auch Autorin. Seit 2022 hat sie drei Bücher im Selbstverlag veröffentlicht, mittlerweile kann sie mit den Verkaufseinnahmen ihre Fixkosten decken. Das Erfolgsgeheimnis der Jungautorin: Sie hat sich ihre Zielgruppe selbst erarbeitet, steht mit ihren 30.000 Tiktok-Abonnentinnen in einem engen Austausch und kann so zielgerichtet prüfen, welcher Stoff bei ihren Leserinnen gut ankommt. "Ich habe im Oktober vergangenes Jahr ein Video mit der Idee zu Secret and Seduction gepostet. Das Video ging viral und ist so gut angekommen, dass ich mich entschlossen habe, das Buch auch wirklich zu schreiben." Kurz vor Weihnachten hat Mov den Fantasyroman veröffentlicht – und bereits in den ersten Wochen knapp 700 Exemplare verkauft. Die Nachfrage sei so groß gewesen, dass sich ihr Buch wochenlang unter den Top Ten der Bestsellerliste von Amazon in der Kategorie "Englischsprachige Bücher" hielt. Mit kurzen Werbeclips samt erotischen Szenen hält sie die Leserinnen bei der Stange.

Die junge Grazerin ist nicht die einzige Autorin, die Tiktok für geschicktes Lesermarketing nutzt. Auf der Videoplattform ist seit der Pandemie eine – vorwiegend weibliche – Lese-Community entstanden, die einander Bücher empfiehlt, sich gegenseitig zu Lesepartys einlädt oder Urlaube in speziellen Lesehotels wie etwa im oberösterreichischen Bad Goisern promotet. Diese Booktoker, so die Selbstbezeichnung, posten die Anzahl der gelesenen Bücher auf ihren Tiktok- und Instagram-Accounts, sortieren ihre Bücherregale nach Farben und markieren beim Lesen ihre Lieblingszitate mit einem Post-it. Autorin Bianca Mov liebt die Community: "Man braucht keine Background-Infos oder Vorwissen, man wird sofort aufgenommen – und was auch immer man gerne liest, ist in Ordnung."

Sehr viel Sex und etwas Mafia

Rund 131 Milliarden Videos wurden unter dem Hashtag #Booktok auf Tiktok gepostet, weitere 156 Millionen unter #BooktokRecommendations. Allein 3,3 Milliarden Videos beschäftigen sich mit #SpicyBooktok – also Büchern mit erotischen Inhalten. Tatsächlich handelt es sich bei den Booktokern um keinen elitären Lesezirkel. Hier feiert man in erster Linie Genres, die auf der Leipziger Buchmesse eher in die hintersten Ecken verbannt werden und die das Feuilleton wenn, dann nur mit spitzen Fingern anfasst: Fantasy- und Romance-Romane, ein wenig kitschig, vor allem aber gespickt mit würzigen Sexszenen.

Seit dem Welterfolg der Fifty Shades of Grey-Trilogie der Amerikanerin E. L. James, die ursprünglich ebenfalls in einem Internetforum entstand und zu 100 Millionen verkauften Büchern führte, konnten sich einige Autoren und Autorinnen in diesem Bereich etablieren. Eine der großen Booktok-Lieblinge etwa ist die amerikanische Schriftstellerin Sarah J. Maas, die mit 16 Jahren die ersten Passagen ihres Romanzyklus Throne of Glass auf dem Portal Fictionpress.com veröffentlichte. Mittlerweile ist ihre siebenteilige Buchserie in 35 Sprachen erhältlich – und auch Maas’ dritte Fantasy-Serie Crescent City ist bei den Booktokern ein Hit.

Drei Bücher hat Bianca Mov bereits im Selbstverlag herausgebracht – mit Erfolg.
Foto: J.J. Kucek, Reainer Wegscheidler

Die Grazer Autorin Bianca Mov liebt es, wie ehrlich die Lesenden sind und feiern, was ihnen gefällt. Sie lässt sich davon durchaus inspirieren: "Im Moment versuche ich mich an Dark Romance. Das Thema trendet gerade sehr, deshalb kann man damit auch gutes Geld verdienen." Unter Dark Romance versteht man ein Genre, bei dem die Helden eher moralisch verwerflich sind – also Mafiosi oder Kidnapper sind – und die Sexszenen explizit beschrieben werden. Movs Ziel ist es, irgendwann nur mehr von den Buchverkäufen leben zu können, da orientiert man sich schon an den Wünschen der Leserinnen und Leser.

Wirtschaftsfaktor

Auch die klassische Buchbranche geht immer mehr auf die Zielgruppe der Booktoker ein. Denn Hypes um Bücher wie jene von E. L. James, Sarah J. Maas oder der Autorin Madeline Miller belegen, wie sehr im virtuellen Raum analoge Erfolge gemacht werden. Miller etwa veröffentlichte 2011 das Buch Das Lied des Achill. Zehn Jahre später wurde das Werk zum Bestseller, obwohl es von ihrem Verlag längst nicht mehr beworben wurde – sondern einzig und allein, weil Tiktok-User das Buch immer wieder empfahlen.

In den USA ist dieser Trend des Buchmarkts längst ein Wirtschaftsfaktor. So war Tiktok dort laut dem Marktforschungsinstitut National Purchase Diary allein im Jahr 2021 verantwortlich für den Verkauf von 20 Millionen Büchern. Nicht von ungefähr war die Social-Media-Plattform, sonst gerne als Schlund der Kurzweiligkeit geschmäht, letztes Jahr deshalb erstmals Partner der Frankfurter Buchmesse. In Buchhandlungen gibt es mittlerweile häufig Tiktok-Tische, und auf der Website des Buchhändlers Thalia ist #Booktok als eigene Kaufkategorie aufgelistet. Evelyn Unterfrauner ist seit Jahren in der Buchbranche tätig und Social Media-Strategin der Agentur Nonstop Creating, deren Kunden vor allem Buchverlage sind: "Tiktok hat viel mehr Geschwindigkeit in die Branche gebracht, sie ist nun Leserinnen-konzentriert. Zuvor wurden im Verlag Spitzentitel definiert, in die dann die Marketingbudgets gesteckt wurden, damit sie es auf die Bestsellerlisten schaffen. Heute landen dort quasi unerwartet andere Bücher, einfach weil diese auf Tiktok gefeiert werden."

Neue Zielgruppe, neues Image

Der Markt reagiere nun darauf, vor guten Verkaufszahlen wolle man sich nicht verstecken, sagt Unterfrauner. Viele Verlage nehmen deshalb Bücher für und über junge Erwachsene in ihr Portfolio, legen entsprechende Programmschwerpunkte und setzen auch vermehrt auf Bücher mit Spice – also Erotik. Unterfrauner freut die Entwicklung: "Genres wie Romance, Fantasy oder Young Adult werden in der Literatur häufig abgewertet. Das halte ich für grundfalsch! Man muss Menschen niederschwelliger zum Lesen bringen, genau das passiert hier: Es wird über das Lesen gesprochen, man erreicht Zielgruppen, die davor vermutlich nie ein Buch gekauft hätten."

100 Seiten statt 60 Sekunden – das wäre tatsächlich keine üble Bilanz.

(Sandra Gloning, 28.4.2023)