Ein Obdachloser auf der Mariahilfer Straße in Wien
Auf der Mariahilfer Straße in Wien schlafen heuer mehr Obdachlose als in vergangenen Jahren.
Christian Fischer

Aus dem Dunkeln nähert sich ein junger Mann dem überdachten Eingangsbereich des beleuchteten Geschäfts, langsam, fast schon zögerlich. "Entschuldigung, wollen Sie was davon haben?" Er hält einen Plastiksack, in dem sich zwei Sushiboxen befinden. "Es wäre so schade, wir schmeißen es sonst weg", sagt der Passant.

Wolfgang streift seinen Schlafsack ab, richtet sich auf, reicht die Hand und bedankt sich. Seit Anfang 2022 lebt der 61-jährige Wiener schon hier. Er kennt die Gegend und die Szene, nicht nur aufgrund seiner freiwilligen Arbeit in Obdachloseneinrichtungen. Hin und wieder habe er dort auch geschlafen. "Aber das ist nicht meine Welt. Generell werd ich oft schräg angeschaut."

Wolfgang entspricht nicht dem gängigen Bild, das die Gesellschaft von Obdachlosen hat: Er trinkt nicht, raucht nicht, er nimmt keine Drogen. Mit dem Hausbesitzer hat er einen Deal: Er kümmere sich quasi als Hausmeister darum, dass es sauber ist, dafür darf er den Platz in der Nacht sein Zuhause nennen.

"Hier fühle ich mich sicher"

Es gibt wenige Orte, an denen die sozialen Kontraste so sichtbar werden wie in der Nacht auf der Mariahilfer Straße, der "Mahü", Österreichs längster Einkaufsstraße. Während um 22 Uhr Fußgänger im Licht der Reklamen schlendern, hat ein gutes Dutzend Menschen längst seine Matten ausgebreitet. Sie schlafen vor Geschäften, oft in kleinen Nischen, meist mit der Mahü im Rücken. Die meisten sind alleine.

Woanders könnte es sich Wolfgang, den psychische Probleme auf die Straße gebracht haben, nicht vorstellen. "Im Esterházypark würde ich niemals schlafen, dort wird man ständig ausgeraubt." Und obwohl auch er unlängst mit einem Messer bedroht wurde und ihm auch schon eine Gruppe obdachloser Alkoholiker sein Revier streitig machen wollte, habe er keine Angst, sagt Wolfgang. "Hier fühle ich mich sicher." Daran hätten auch die letzten Vorfälle nichts geändert.

Am 9. August am Hernalser Gürtel, nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt, wurde in der Nacht ein obdachloser Mann niedergestochen. Er überlebte schwerstverletzt. Mitte Juli wurde ein Mann beim Handelskai niedergestochen – er starb. Zehn Tage später traf es eine 51-jährige Frau in der Venediger Au, sie überlebte knapp.

Ermittlungen wurden gebündelt

Beim Landeskriminalamt Wien hat die Gruppe Bauer die Vorfälle zu einem Ermittlungsfall zusammengezogen. Ob es sich um einen einzelnen Serientäter, eine Gruppe oder um voneinander unabhängige Verbrechen handelt, konnte man bis Freitag noch nicht sagen – ermittelt werde in alle Richtungen.

Bestätigen kann die Polizei allerdings, dass jeweils eine Stichwaffe zum Einsatz gekommen ist. Die Ermittler konnten bereits einige Erkenntnisse zur Art der Waffe sammeln, wollen diese aber noch nicht mit der Öffentlichkeit teilen. Zugeknöpft gibt man sich auch auf die Frage, ob die Auswertung der Videoüberwachung der Bahnhöfe an der Schnellbahn-Stammstrecke, die nahe der ersten beiden Tatorte liegen, etwas ergeben hat. Ermittlungstaktische Gründe sprächen gegen die Bekanntgabe von Details. Für die Staatsanwaltschaft Wien bestätigte Sprecherin Nina Bussek, dass alle drei Angriffe in einem Akt zusammengeführt worden seien.

Schlafsack abgelehnt

Die Vorfälle werfen generell die Frage auf, wie es um die Sicherheit von obdachlosen Menschen im öffentlichen Raum steht. Wie häufig sind sie mit Gewalt konfrontiert?

"Hätten Sie mich vor zwei Jahren gefragt, hätte ich gesagt, kaum", sagt Susanne Peter. Sie war vor 30 Jahren an der Gründung der Gruft (Obdachloseneinrichtung der Caritas unter der Mariahilfer Kirche) beteiligt und arbeitet als Streetworkerin.

Das Perfide sei, dass obdachlose Menschen häufig attackiert würden, wenn sie am wehrlosesten seien. Im Schlaf. Eine Klientin habe deswegen schon einen Schlafsack abgelehnt, weil sie nicht schnell genug rauskäme. Eine Erklärung für die jüngste Häufung von Attacken hat Peter nicht. "Wir versuchen zu sensibilisieren, dass niemand alleine schäft." Die Polizei hat ihre Präsenz an neuralgischen Stellen verstärkt.

Täter mit "erheblich destruktivem Potenzial"

Für Adelheid Kastner, Primarin der Klinik für Psychiatrie an der Linzer Kepler Universität, sind die Angriffe auf Obdachlose Verbrechen mit "erheblich destruktivem Potenzial". "Hier geht es nicht mehr darum, dass jemand sekkiert, sondern vernichtet wird", so Kastner, die auch als Sachverständige bei Gericht tätig ist. Dem Täter oder den Tätern fehle jegliche Empathie, zudem handle es sich um extrem feige Verbrechen. "Schlafende Opfer sind widerstandsunfähig, der oder die Täter gehen kein Risiko ein", so Kastner zum STANDARD. Über Motive in den Wiener Fällen möchte sie aus der Ferne nicht spekulieren.

Gewalt ortet Wolfgang auch in der Szene selbst. "Oft geht es um Macht-, um Revierkämpfe", sagt er. Vor allem unter Alkoholkranken sei das ein Problem. "Ein paar Leute haben sich Pfeffersprays besorgt." Diese seien ihnen aber von der Polizei abgenommen worden, weil gegen sie ein Waffenverbot bestehe.

10.000 Menschen in Wien obdachlos

Wahlfreiheit haben Obdachlose nicht: Die Schlafplätze in den städtischen Einrichtungen sind voll. Jede Nacht müssen Menschen abgewiesen werden. Im Sommer gibt es um 1.000 Schlafplätze weniger als im Winter. Daran will die Stadt Wien auch nichts ändern. Rund 10.000 Menschen in Wien sind obdachlos oder wohnungslos.

Ein Schlafplatz drinnen kommt für Alexandru, der 50 Meter weiter auf der Mahü sitzt, nicht infrage. "Hier habe ich meine Ruhe", sagt der 32-jährige Rumäne auf Englisch. Auch er habe von den Messerattacken gehört. "Aber ich hab keine Angst", in Rumänien habe er als Jugendlicher geboxt. Was ihn mehr beschäftigt, sind die Perspektivlosigkeit – und seine Tochter.

"Schau", sagt er plötzlich auf Wienerisch und zieht einen Lebenslauf aus dem Anorak. Bei zwei Firmen sei er wegen seiner Diabeteserkrankung gefeuert worden. "Oft kommen Leute vorbei, geben mir eine Zigarette, ein bisschen Geld. Aber was ich brauche, ist ein Job." (Elisa Tomaselli, Michael Möseneder, Michael Simoner, 11.8.2023)