Ökonomin Jana Costas posiert in Berlin-Kreuzberg für ein Foto.
Die deutsche Wirtschaftswissenschafterin Jana Costas hat im Rahmen einer ethnografischen Studie ein halbes Jahr selbst als Putzfrau gearbeitet.
IMAGO/Emmanuele Contini

Es scheint eine Pandemie gebraucht zu haben, um jene Menschen, die Tag für Tag den Dreck der anderen wegräumen, die putzen und sauber machen, für einen Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Reinigungskräfte mussten trotz Coronavirus hinaus und wurden dafür kurz mit Applaus bedankt. Aber das war’s auch schon. Aus den Augen, aus dem Sinn. Jana Costas hingegen hat den Blick bewusst auf diese Gruppe gerichtet und deren Blick auf sich und die Welt untersucht. Die Wirtschaftswissenschafterin forschte fast ein Jahr in einem der größten Reinigungsunternehmen Deutschlands und arbeitete dort sechs Monate selbst als Putzfrau. Nicht undercover, alle in ihrer Kolonne wussten, dass eine Forscherin mit ihnen den Gebäudekomplex Potsdamer Platz reinigt. Das Ergebnis ihrer ethnografischen Studie ist im Verlag Suhrkamp das Buch Im Minus-Bereich. Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde.

STANDARD: Was ist der "Minusbereich"?

Costas: Diesen Begriff verwenden die Reinigungskräfte selbst, um den bis zu vier Ebenen umfassenden Bereich unterhalb des Potsdamer Platzes zu bezeichnen. Der Minusbereich ist für sie sehr relevant, dort ziehen sie sich um, da sind der Materialraum und die Schließfächer. Es ist aber auch der Bereich, den sie benutzen, wenn sie sich oben nicht mehr aufhalten dürfen. Denn ab neun Uhr sollen sie nicht mehr mit dem Reinigungswagen sichtbar unterwegs sein. Der Minusbereich ist quasi ihr Bereich. Ich benutze den Begriff aber auch im übertragenen Sinne. Diese räumliche Zuordnung sagt etwas über den Status der Reinigungskräfte aus, nämlich dass sie ganz unten in der Hierarchie angesiedelt werden. Eine Reinigungskraft hat von sich als "Minus-Mann" gesprochen. Der Begriff zeigt nicht nur, wie hier Statushierarchien räumlich geschaffen werden. Diese räumliche Zuordnung sagt auch etwas über die Unsichtbarmachung der Reinigungskräfte aus, die zeitlich, räumlich und sozial passiert.

STANDARD: Hier wird also auf mehreren Ebenen Ungleichheit produziert und inszeniert.

Costas: Ja, mich hat vor allem interessiert: Was passiert eigentlich in dieser Arbeitswelt in den alltäglichen Begegnungen, vor allen Dingen aus der Sicht der Reinigungskräfte, also derjenigen, die am unteren Ende der Arbeitsmarkthierarchie stehen? Wie nehmen sie ihre Rolle wahr? Diese Frage ist auch wichtig, weil es hier um Ungleichheit geht, die gewissermaßen im Alltag hergestellt wird. Dazu können wir uns Statistiken und Lohnunterschiede anschauen, das ist wichtig, erklärt aber noch nicht, wie diese Ungleichheit gelebt und symbolisch in den alltäglichen Begegnungen hergestellt wird.

STANDARD: Zentrale Analysekategorie Ihrer Studie über Reinigungskräfte ist Würde. Warum und wie definieren Sie Würde in diesem Kontext?

Costas: Das hat sich aus dem Feld meiner Forschung heraus ergeben. Ich habe gesehen, dass in diesen ungleichen Begegnungen im Alltag ein Kampf um Würde stattfindet. Würde ist etwas, auf das wir alle angewiesen sind. Sie fußt auf zwei Komponenten: Wie sehe ich mich als Mensch, und wie sehen die anderen mich? Erkennen sie mich in dem, was ich mache, an? Erfahre ich Wertschätzung von anderen? Bei den Reinigungskräften stehen diese zwei Komponenten im Konflikt. Auf der einen Seite verleiht ihnen ihre Arbeit, der sie sich bewusst zuwenden, auch eine gewisse Würde. Sie sind stolz darauf. Auf der anderen Seite gibt es alltägliche Begegnungen, die das untergraben. Ihnen wird gerade wegen ihrer Arbeit wenig Respekt und Anerkennung entgegengebracht, was ihren Status und ihr Selbstwertgefühl angreift.

STANDARD: Sie sprechen von "Dramen der Würde", die der Beruf der Reinigungskraft mit sich bringe oder generiere. Welche zum Beispiel?

Costas: Ein typisches Beispiel ist die Reinigungskraft, die unglaublich stolz ist, dass sie in einem bestimmten Objekt, das vielleicht ein eher luxuriöses Gebäude ist, eine Schicht übernehmen kann, die für die neuesten Reinigungsutensilien sorgt, und dann beschwert sich der Manager, dass sie einen Fußabdruck hinterlassen habe. Dabei hat sie gerade erst sauber gemacht, und eine Minute später ist irgendwer von draußen über den Teppich gelaufen. Oder was Reinigungskräfte sehr oft erleben, ist, dass sie komplett ignoriert und nicht gegrüßt werden, als ob sie gar nicht existieren würden. Oder es wird ihnen Müll vor die Füße geworfen, obwohl der Mülleimer danebensteht. Das macht ja etwas mit einem. Das ist die soziale Form der Unsichtbarmachung. Da geht es um Nichtanerkennung als Mensch.

Im Bild ist eine Putzfrau zu sehen, die in einem Stiegenhaus aufwischt.
In den Begegnungen – oft sind es buchstäbliche Nichtbegegnungen – zwischen Reinigungskräften und denen, für die sie putzen, wird Ungleichheit quasi im Alltag hergestellt.
Heribert Corn

STANDARD: Warum werden Menschen, die mit Schmutz arbeiten, überhaupt so stigmatisiert?

Costas: Das ist in vielen Gesellschaften tief verankert. Wir wissen von der Sozialanthropologin Mary Douglas, dass Schmutz etwas ist, das wir ausschließen wollen aus unserer Ordnung, das uns mit etwas konfrontiert, das wir nicht richtig einordnen können. Reinigungskräfte haben auch noch mit unserem Schmutz zu tun, das heißt, sie haben Zugang zu unserem Privatesten, was uns eigentlich unangenehm ist. Darum wollen wir sie lieber nicht sehen. Im Englischen heißt es nicht von ungefähr: They are made socially dead. In sozialer Hinsicht sind sie tot.

STANDARD: Haben Sie mit Ali, Marcel, Alex und Luisa, mit denen Sie geputzt haben, auch darüber gesprochen, was sie sich wünschen würden?

Costas:Ja, ich habe ja auch eine Präsentation im Unternehmen gemacht und sie gefragt, ob ich irgendetwas mitteilen soll. Der Wunsch, den eigentlich alle Reinigungskräfte haben, ist, dass sie eine Anerkennung sehen wollen für die Arbeit, die sie leisten. Das kann natürlich durch den Lohn ausgedrückt werden, der zeigt, du bist mir so viel wert und deswegen bezahle ich dich auch richtig. Anerkennung kann aber auch im Kleinen stattfinden. Etwa durch Grüßen. Eine Reinigungskraft hat gesagt, wenn ihr Blick nicht erwidert wird: "Ich hasse das." Jetzt kann man sagen, von diesen kleinen Gesten kann sie sich nichts kaufen. Aber es ist wichtig, die wirtschaftliche Ungleichheit zusammen mit der symbolischen zu sehen. Wenn das Selbstwertgefühl der Reinigungskraft durch Anerkennung ihrer Arbeit und damit ihrer Person gestärkt wird, wird sie eher in der Lage sein, ihre Stimme zu erheben und sich für ihre Interessen einzusetzen.

STANDARD: Sie sprechen im Singular. Ein Kollege, der mit Ihnen geputzt hat, betonte auch ausdrücklich: "Wir sind hier kein Team." Warum gibt es in dieser Gruppe, die gesellschaftlich ja doch als Kollektiv stigmatisiert wird, keine Solidarisierung untereinander gegen dieses Außen?

Costas: Zum einen hat die Dienstleistungsbranche an sich etwa im Vergleich zu industriellen Facharbeitern und Facharbeiterinnen keine so stark gewerkschaftlich organisierte Tradition. Zum anderen gibt es innerhalb dieser sehr heterogenen Gruppe selber eine strukturelle Segregation. Es gibt Personen, die haben einen Minijob, andere arbeiten Vollzeit oder hoffen auf Festanstellung. Oder es putzen Menschen mit und ohne Ausbildung. Es gibt in der Reinigungsbranche auch keine etablierte und verbindende Berufskultur, wie man sie in der Arbeiterklasse findet.

STANDARD: Welche Gründe gibt es dafür?

Costas: Weil die Eintrittsbarrieren in diese Branche so niedrig sind. Das Fehlen von Zugangshürden führt dazu, dass die Reinigungskräfte das Gefühl haben, jeder, jede Frau, jeder Mann, kann eine Reinigungskraft sein. Das führt zu einer negativen Gleichrangigkeit. Wenn das, was ich mache, alle machen können, auch Personen, die noch nie vorher in der Reinigung tätig waren, die kein Wort Deutsch verstehen, dann führt das dazu, dass man das Gefühl hat, man würde zu einem Niemand oder zu dem, wofür man von außen stigmatisiert wird. Dagegen wenden sie sich und entwickeln für sich Ersatzhierarchien – Männer gegen Frauen, Junge gegen Alte, Deutsche gegen Nichtdeutsche –, um sich einen Status innerhalb der Gruppe zu schaffen. Der aber natürlich fragil ist, weil von außen werden sie ja weiterhin "nur" als Reinigungskräfte gesehen. (Lisa Nimmervoll, 16.8.2023)