Wanduhr vor weißem Hintergrund
Wir leben in einer Just-in-Time-Kultur, und das seit langem. Die Folge ist die Verwechslung von Mails und Nachrichten mit tatsächlicher Arbeit.
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Manches dauert etwas länger. Diese Geschichte etwa, die ihren Ursprung auf das Ende der 1980er-Jahre zurückführen kann, was man wohl kaum als "zeitnah" bezeichnen würde. Damals nahm der Autor an einem Seminar des (inzwischen verstorbenen) Peter Heintel statt, Professor für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt und nebenbei auch Unternehmensberater. Das Thema des Seminars war die Zeit, genauer gesagt: die Beschleunigung der Zeit – eine Erfahrung, die unseren Alltag damals genauso wie heute prägt.

Aus dem Seminar entstand, was man eine sehr österreichische Lösung nennen könnte: ein "Verein zur Verzögerung der Zeit". Dessen Mitglieder verpflichten sich, "innezuhalten und dort zum Nachdenken aufzufordern, wo blinder Aktivismus und partikuläres Interesse Scheinlösungen produzieren". Nur dem Innehalten bei der Einzahlung eines ersten Mitgliedsbeitrags ist es geschuldet, dass mir die Ehre einer Gründungsmitgliedschaft versagt blieb.

Getriggert wurde diese Erinnerung neulich durch eine Häufung von Mails im Eingangsfach, die in unterschiedlichen Tonlagen auf die Dringlichkeit der Beantwortung hinwiesen, vom Wunsch nach "zeitnaher" Antwort, zahllosen Asaps bis hin zu "Ihre Antwort erwarten wir bis EOB", und das eine knappe Stunde vor dem implizierten End of Business Day und der Aussicht auf Happy Hour mit Kollegen. Kaum ist die Mail im Postfach angekommen, wird sie schon durch die noch dringlichere Message am Handy überholt, ob man denn die Mail schon gesehen habe. Schlimmer noch die Telefonate, die das Eintreffen einer bevorstehenden Mail ankündigen, gefolgt von den Telefonaten, ob man denn die Mail erhalten habe.

Kein Ende in Sicht

Wer könnte sich solchen dringlichen Erledigungswünschen schon entziehen, wo man auch noch morgen auf einen Drink gehen kann und für die wichtige Präsentation noch ein Wochenende Zeit ist? Die Zeit drängt, tut sie das nicht immer schon, und seit die quasi naturgegebene Verzögerung des Postwegs hin und retour und damit eine mögliche Entschuldigung entfallen ist, ist der Dringlichkeit kein Ende mehr. Und Empfängerinnen wissen, was sie ihren Absendern schulden. "Entschuldige die späte Antwort" ist die häufige Eröffnungsphrase, selbst wenn die Antwort prompt erfolgt und keine zeitliche Erwartung mit einer Anfrage verbunden war.

Wir leben in einer Just-in-Time-Kultur, und das seit langem. Die Folge ist die Verwechslung von Mails und Messages mit tatsächlicher Arbeit. Das Tageswerk scheint erledigt, wenn alle Mails beantwortet sind, selbst die, die außerhalb der Arbeitszeit eintreffen. Weil wir zuerst damit beschäftigt sind, allen Anforderungen zu genügen, die andere mit ihren Mails und Messages stellen – asap –, kommen wir nicht zu den Anforderungen, die wir an andere im Zuge unserer Arbeit haben. Und so drehen wir gemeinsam weiter an der Dringlichkeitsschleife, indem wir Mails in letzter Minute verschicken, Antwort asap erbeten.

Viele wollen verzögern

Die Verzögerung der Zeit erscheint paradoxerweise dringender als je zuvor, wenn wir in der digitalen Flut an Dringlichkeiten nicht untergehen wollen. "Jahrelang war es ein Verein älterer Menschen, weil sich das Thema Beschleunigung eher den Älteren aufgedrängt hat. Inzwischen haben wir einen hohen Zulauf jüngerer Menschen, denen das verschulte Studium, bei dem alles schnell gehen muss, der Zeitdruck im Job oder die Karriereplanung nicht taugt", sagt Martin Liebmann, der seit 2014 Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit ist. Das Gespräch mit dem studierten Philosoph und Politologen, der als Markenberater tätig ist, kam mit der nötigen Ruhe zustande. Eine E-Mail-Anfrage ohne Termin wurde einige Wochen später beantwortet und führte zu einer telefonischen Verabredung, die dann pünktlich eingehalten wurde.

Zum Glück war es ja nicht eilig. Natürlich gibt es das auch, sagt Liebmann, "wenn eine Katastrophe droht, bei einem Feuer oder einem Schlaganfall, da kann es gar nicht schnell genug gehen. Aber in allen Lebensbereichen ist das nicht gut. Wirtschaften soll effizient sein, aber Eile zerstört Effizienz. Vor allem Messaging ist ein Rückfall in das Kleinkindalter, wo Bedürfnisse immer sofort erfüllt werden müssen. Es fehlt die Reife, etwas gut zu machen, es wird hingerotzt, und man ist zufrieden, weil es schnell ging."

Wo ist der Zeitwohlstand?

Obwohl wir seit Jahrzehnten unser Telefon mit uns herumtragen, Mails und Nachrichten verschicken, hätten wir noch immer nicht gelernt, damit umzugehen. "Das Telefon stört ja immer, in der Regel haut es in irgendeine Arbeit rein, wo man gerade konzentriert ist. Da tut man gut daran, das alles abzuschalten, um konzentriert zu arbeiten. Bei handwerklichen Dingen ist das so: Wer eine Mauer macht, der mauert und macht nicht tausend andere Dinge gleichzeitig."

Ein Begriff, den Liebmann gerne für einen besseren Umgang mit unserer Zeit gebraucht, ist der des "Zeitwohlstands". "Die Zeiten, dass wir schaffen müssen, ist vorbei. Der Wohlstand ist bei vielen da, aber das ist nur der materielle. Den Zeitwohlstand bekommen wir erst langsam in den Fokus", postuliert Liebmann. Menschen würden weniger Zeit brauchen, um etwas herzustellen, "aber es gibt noch eine andere Seite, das ist die Konsumarbeit, sonst würde das nicht funktionieren. Die Erwerbsarbeit geht zurück, ich hätte auch nichts gegen eine Dreitagewoche. Das Problematische ist, dass der Rest sehr stark in den Konsumbereich fallen wird." Jeder materielle Konsum verbrauche Energie, so führe die gesteigerte Effizienz und ersparte Zeit nahtlos in die Verstärkung der Erderwärmung.

"Stress entsteht durch all diese Erfindungen. Die Vereinsgründung entstand auch aus der Verwunderung darüber, dass technische Innovationen, die Zeit sparen sollen und theoretisch auch könnten, unsere Optionen erweitern. Wir sind immer mehr unterwegs, wir kommunizieren übermäßig viel, es bleibt weniger Zeit für Muße. Was könnten uns Smartphones alles abnehmen – aber inzwischen beschäftigen wir uns mehr mit ihnen, als dass sie uns Arbeit abnehmen." Er selbst verwende sein Handy mehr wie ein Festnetztelefon: "Ich lasse es auch zu Hause, wenn ich zu einem Gespräch gehe."

Unterscheide weise

Ein Weg, das Hamsterrad zu bremsen, sei die Erkennung verschiedener Sphären des zeitlichen Umgangs. "Unser Umgang mit Zeit ist zu wenig differenziert. Natürlich kann man die Zeit nicht verzögern, das ist provokativ. Es ist aber möglich, die Eigenzeiten jeglicher Prozesse besser mitzubekommen, zu spüren und aufmerksam zu sein, was gut ist, wenn es schnell oder langsam ist, was für jeden Prozess das richtige Tempo ist." Derzeit würden wir alle Lebensbereiche dem "Zeitdiktat der Ökonomie" unterordnen, obwohl andere Lebensbereiche wie Kunst, Bildung oder die Natur ihre jeweils eigene Zeitlichkeit haben.

Der Weg zu solcher Einsicht ist hingegen mit vielen "dringlichen" Mails gepflastert. Doch die Dringlichkeit des Absenders entspricht selten der Dringlichkeit des Empfängers. "Ich halte nicht viel von Zeitmanagement", sagt Liebmann, er gehe nach der "Eisenhower-Matrix" vor, die zwischen "wichtig" und "unwichtig", zwischen "dringend" und "hat Zeit" unterscheidet. "Was Zeit hat und was unwichtig ist, kann man gleich in die Tonne geben. Was wichtig ist, kommt ohnehin wieder. In Büros werden die meisten Sachen als dringend formuliert, aber es wird nicht darüber nachgedacht, wie wichtig es wirklich ist. Unser Riesenfehler ist, immer auf Eile und das Dringende zu reagieren. Dafür werden wichtige und strategische Dinge vernachlässigt, bis sie als Dringlichkeit wieder hochpoppen. Das ist auch das Muster der Klimakrise." (Helmut Spudich, 21.8.2023)