Neustifter Kirtag
Während des Neustifter Kirtags wird die Rathstraße zur Flaniermeile – und zum Laufsteg.
Heribert Corn

Auf den Bänken des Heurigen Wolff drücken sich Ralph-Lauren-Hemden neben Tostmann-Dirndl. Es ist sieben Uhr am Abend, die Stimmung an den grünen Holztischen aufgekratzt. Es gibt Krautfleckerln, Bratkartoffeln, Wein, Bier und Zigaretten. "La Isla Boni-ita" tönt es von einer Terrasse in den Garten hinunter, dann geht es weiter mit "Atemlos". Einige singen mit, nur Shazam hat Schwierigkeiten, den Döblinger Singsang zu identifizieren. Das "Um die 18"-Publikum ist ständig in Bewegung, von Tisch zu Tisch, von der Terrasse auf die Straße. Später wird der Wein erledigen, wozu woanders Tinder benötigt wird.

Auf der Terrasse mit Blick auf das beschauliche Neustift trägt man Lacoste, Timberland und Zahnspange, Shopper von Longchamp, hier und da eine Louis-Vuitton-Tasche, hochgezogene weiße Tennissocken zu handgemachten Lederhosen. Das seien die "Rich Kids aus Döbling", sagt einer der Älteren hier hinter vorgehaltener Hand. Wie die Jungen ausgerechnet in diesen Gastgarten kommen? Die Einladungen seien über den ÖVP-Verteiler rausgegangen. Aber das wolle man doch bitte so nicht schreiben, oder? Nicht, dass da wieder falsche Bilder entstünden. Wüsste man es nicht besser, der Terrassengarten mit den rosa und hellblauen Tupfen der Hemden und Dirndln könnte das Setting einer Highschool-Serie auf Netflix sein.

Neustifter Kirtag
Die Frauen tragen Dirndl ...
Heribert Corn
Neustifter Kirtag
... die Jungen sind in Lederhosen und Sneakern unterwegs.
Heribert Corn

Vielleicht handelt es sich bei der angesäuselte Kirtagidylle, die erstmals schon am Donnerstag begann, aber auch um jene "Normalität", die sich Karl Mahrer so sehr wünscht für sein Wien. Der ÖVP-Sheriff ist am Eröffnungstag im Trachtenjanker unterwegs und überall präsent. Bereits am Nachmittag ist er die Straße auf- und abgegangen - begleitet von einem eilfertigen Parteitross. 300 Meter vom Wolff zum s’Pfiff und wieder zurück. Die Rathstraße ist der längste Laufsteg, den ich bisher gesehen habe, fällt mir auf - und ich bin Modejournalistin. Dass ich über all das, was hier auf der Straße und in den grünen Gastgärten der Heurigen abgeht, noch staunen kann, hat einen Grund. Ich besuche die Veranstaltung zum ersten Mal. Bislang hatte ich dazu keinen Grund. Nicht einmal ein Dirndl besitze ich. Dass der Neustifter Kirtag ein modisches Ereignis ist, habe ich lange übersehen, vielleicht auch übersehen wollen. Dabei sind mir in den vergangenen Jahren die aufgeputzten Bilder auf Instagram nicht entgangen. Vielleicht gelingt mir hier auf der Rathstraße im 19. Bezirk endlich eine Annäherung an Dirndl und Lederhose.

Karl Mahrer und Christoph Wiederkehr, Neustifter Kirtag
Fixtermin für Politiker: Karl Mahrer (ÖVP) und Christoph Wiederkehr (Neos) unterwegs auf dem Neustifter Kirtag.
Heribert Corn

Luftballons und Airbrush-Tattoos

Doch zuerst einmal musste ich dort hinkommen, nach Neustift im Walde. Losgegangen ist es am späten Donnerstagnachmittag in der Wiener Innenstadt. Die dörfliche Idylle fühlt sich für mich als Großstädterin sehr weit weg an, doch sie ist näher als gedacht. Auf der Busfahrt mit der Linie 35 stimme ich mich Station für Station (16 sind es von Spittelau aus) auf Döbling ein. Das fällt dank der Gespräche auf den Sitzen nebenan leicht. Es sei gut, in der Gegend aufgewachsen zu sein, hier könne man sich sicher fühlen. Die zwei Dirndl-Wienerinnen, die das sagen, reden außerdem über Insta-Storys und Fitness für Bauch, Beine, Rücken. Morgen nach dem Kirtag geht es dann endlich ab in den Urlaub.

Die Linie 35 hält wenige Meter vor dem aufgeblasenen roten Eingangstor von Almdudler, wie praktisch. Kurze Orientierung, bald ist klar: Die ÖVP hat hier ein Heimspiel und ist am besten präpariert, Dirndl-Frauen drücken den Ankommenden Luftballons und befüllte Papiersackerln in die Hände. Die Neos vertritt Vize-Bürgermeister Christoph Wiederkehr im hellen Leinensakko, die SPÖ verteilt Schokolade, die FPÖ verschenkt Kochlöffel und Kuschel-Hunde mit blauem Schlappohr, leider sei Kickl heute nicht vor Ort, sagt einer. Ebenfalls abwesend: die Grünen. Es geht durch das rote Almdudler-Tor, der Kirtag ist schließlich eine Art Straßenfest. Im grellen Sonnenlicht wirken die aufgefädelten Stände ein wenig glanzlos. Beim Angebot kommt kaum jemand zu kurz. Es gibt Kukuruz und Pferdeleberkässemmel, Flohmarktware, Fake-Tommy-Hilfiger-Taschen und Airbrush-Tattoos.

Neustifter Kirtag
Man kommt zum Tratschen und Trinken zum Neustifter Kirtag.
Heribert Corn

Mir fällt auf: Während die Dirndln und Lederhosen über die Straße flanieren, kommen die wenigsten Standler dem Trachtenmotto nach. "Ich trage keine Lederhosen, nur Ledergürtel", meint der indischstämmige Wiener, der an einem der Stände Kinderdirndln aus Ungarn für 29 Euro anpreist. Seit 33 Jahren lebt er in Österreich, der Funke zum Kirtag scheint bislang nicht übergesprungen sein.

Dann doch lieber ein paar Modefragen an zwei Wiener, die hier so selbstbewusst wie frisch gebräunt in Lederhosen, Sneakern und und über den Schultern geknoteten Sweatern herumstehen. Die Döblinger Coolness entpuppt sich als Trugschluss. Die beiden 17-Jährigen sind aus dem zweiten und elften Bezirk gekommen. Sie tragen, wie das Gros der Jungen, die schubweise aus den Bussen strömen, eine Art Uniform: handgemachte Lederhose aus Salzburg, weißes T-Shirt von Y-3, dazu helle Sneaker und hochgezogene Tennissocken. "Die ziehe ich zu allem an", sagt der eine. Sein Begleiter findet den Look fast schon identitätsstiftend: "Ich bin mit Tracht aufgewachsen, ich würde darin auch heiraten."

Neustifter Kirtag
Ein Liebesbekenntnis zum Neustifter Kirtag?
Heribert Corn

Unter Lederhosen

Einige Meter weiter steht sich eine Männerrunde die Beine in den Bauch. Frage in die Runde: Wie viele Lederhosen besitzen Sie? Es wird zurückgeduzt, man ist hier ja im Dorf. Zwischen vier und zwei Stück, heißt es. Dafür handelt es sich um Qualitätsware aus Österreich: "Meine ist von Tostmann." Nicht ganz günstig, oder? Breites Grinsen: Man müsse wissen, wann man sie wo günstiger bekomme. Der heiße Lederhosen-Tipp des anderen lautet: Gössl in der Innenstadt. Die Hosen seien angenehm zu tragen und luftiger als Jeans.

Neustifter Kirtag
O'zopft is!
Heribert Corn

Wer hier was wählt und wo steht? Unklar. Tracht, das wird mir an diesem Abend wieder einmal vor Augen geführt, wird ideologiebefreit getragen. Die Gesinnung ist im Sommer 2023 nicht mehr unbedingt an den Hirschhornknöpfen und Stutzen abzulesen. Deshalb eine Frage an vier 13-jährige Mädchen, die aus dem 21. Bezirk angereist und in weiten Baggy Pants unterwegs sind. Was auf der Mariahilfer Straße ganz normal ist, fällt hier aus dem Rahmen, Hosen tragende Frauen sind auf dem Neustifter Kirtag die Ausnahme. Warum also kein Dirndl? Schulterzucken: "Wir würden eh eines tragen, wenn wir eines hätten." Ich drehe noch eine Runde durch die Heurigen, zum Fuhrgassl-Huber und zum Schreiberhaus. Hier ist das Publikum älter, aber überall gilt: Ohne Tischreservierung, ohne Gesellschaft und ohne Alkohol kann ein Abend hier lang werden. Es ist kurz vor acht, der Bus ist abfahrbereit. Zum Schluss noch ein abendlicher Snack am Würstelstand Spittelau. "Ich fühle mich schlecht, weil ich kein Dirndl anhabe", meint eine Passantin auf dem Weg nach Neustift. Sie trägt ein einfaches Sommerkleid. Ich verstehe sie, irgendwie. (Anne Feldkamp, 18.8.2023)