Maxim Biller
Maxim Biller, er wird kommende Woche 63 Jahre alt, hat mit der Hauptfigur seines neuen Romans neben dem Geburtsjahr noch einiges mehr gemein.
Lottermann and Fuentes

Er werde nicht mehr schreiben, hatte Maxim Biller im März 2022, einen Monat nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, bekanntgegeben. Er sehe nämlich keinen Sinn darin, die Wirklichkeit zur Fiktion zu machen, wenn diese die Menschen nicht nachhaltig klüger mache. Er habe gerade ein Buch fertig geschrieben, dieses werde sein letztes sein. Seit dieser Woche kann man es lesen, und der Schmerz des Autors wird durch eine verblüffende Koinzidenz noch nachvollziehbarer. Denn es handelt von Odessa in der Ukraine.

Der aktuelle Krieg dort kommt mit keinem Wort vor, ihn konnte Biller nicht voraussehen, und er hat ihn auch nicht nachgetragen. Trotzdem ist die Gewalt, die der Ukraine historisch immer wieder angetan wurde, präsent. Einmal mit dem Massaker, das die Nationalsozialisten 1941 an Juden auf dem Tolbuchinplatz in Odessa verübten. Und ein weiteres Mal mit dem Programm, das die Sowjetunion gegen die jüdische Bevölkerung fuhr und vor dem die im Zentrum des Romans Mama Odessa stehende Familie Grinbaum in den 1970ern flüchtete.

Schmerzzentrum

Damit sind wir beim zweiten Schmerzzentrum des Romans: der Mutter Grinbaum. Maxim Biller hat schon oft seine Familiengeschichte in Romane einfließen lassen, ebenso seine Mutter. Diesmal aber hat sie die Hauptrolle. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie 2019 gestorben ist. Wie Biller in Interviews zum Erscheinen des Buches sagt, bereue er es, in den letzten Lebensjahren seiner Mutter zu viel Zeit mit dem Schreiben und zu wenig mit ihr verbracht zu haben. Das sorgt diesmal für einen wunderbar zärtlichen Grundton bei dem sonst für Aufregung und Provokation bekannten Autor.

In Gang kommt die Geschichte dank Briefen, die Mutter Aljona zeitlebens dem Sohn geschrieben, aber meist nicht abgeschickt hatte. Nach deren Tod findet Mischa sie in ihrem Schreibtisch. Vieles, was er darin über ihre Wut und Traurigkeit liest, wusste er nicht. Telefonate zwischen ihnen muss man sich über die Jahrzehnte und verschiedenen Wohnorte Mischas wie München und Berlin hinweg teils so vorstellen: "Wie geht es dir, mein Junge? Aber bitte erzähl mir jetzt nicht wieder von deinen Problemen und deinen Mädchen!" Zwischen ihnen existiert – obwohl oder gerade weil beide Autoren sind – eine Distanz, die nichts mit Ablehnung zu tun hat, sondern mit den für Billers Bücher so typisch eigenwilligen Charakteren.

"Nazihure" und Hypochondrie

Natürlich hegt Mischa folglich seine Hypochondrie, und es muss das Wort "Nazihure" fallen, wie die Mutter die neue Freundin des Ex-Manns nennt, der im Roman die untergeordnete Rolle spielt. Eigentlich hätte er nach Israel wollen, ist aber als Zionist gescheitert. Aljona hätte immer gern einen leidenschaftlicheren Mann gehabt, dass sie wegen seines antikommunistischen Politengagements ihr geliebtes Odessa verlassen musste, hat sie ihm zudem nie verziehen. Episodenhaft führt Biller tiefer in die Geschichte der gern fabulierenden Familie hinein, die eng mit dem Schicksal der Juden in der Sowjetunion verwoben ist.

Wie immer in Billers Büchern geben sich auch auf diesen dichten 230 Seiten Fakten und Fiktionen die Hand. Wer mit Billers Biografie oder Google vertraut ist, stößt schnell auf Parallelen zwischen der Familie des Autors und seines Erzählers sowie auf Abweichungen. So bezogen die Grinbaums wie Billers 1972 nach ihrer Ankunft in Hamburg eine großzügige Gründerzeitwohnung in der Bieberstraße, wo Rada Biller bis zuletzt lebte. Allerdings hatten die Billers nie in Odessa gelebt, sondern waren aus Moskau über Prag nach Deutschland gekommen. Das ist ein nettes Rätselspiel, für die Lektüre aber letztlich wenig entscheidend.

Späte Karriere

Wichtiger ist, dass Aljona Grinbaum wie Rada Biller erst jenseits der 70 Jahre dank der Kontakte des bekannten Sohnes in die Verlagsbranche ihr erstes Buch veröffentlichte. Eigentlich will Mischa sich so etwas Luft von ihr verschaffen, dann bringt der sich tatsächlich einstellende Erfolg der Mutter beide einander aber noch einmal näher. Wenn er sie in den letzten Jahren besucht, kann er jedoch nicht mehr im alten Kinderzimmer übernachten, da schlafen nun Pflegerinnen. Die Mutter hat zu sterben begonnen.

Zwei Romane und ein Erzählband (Berlin-Verlag) sind von Rada Biller bis zu ihrem Tod erschienen, der Sohn erinnert an diese mit Textauszügen. Sentimentalität und ein ganz direkter Humor sind bei Maxim Biller nie ein Widerspruch, so liebevoll hat er sie aber noch nie verbunden. Beiden titelgebenden Sujets wird Mama Odessa aufs Bedrückendste und Rührendste gerecht. (Michael Wurmitzer, 19.8.2023)