Nellie Fischer-Benson (Lola) und Johanna Bantzer (Helene, rechts) sind die Protagonistinnen in der Dramatisierung von Mareike Fallwickls Roman "Die Wut, die bleibt' am Salzburger Landestheater
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Am Ende nehmen es die vier Mädels einfach selbst in die Hand. Sie kleiden sich in schwarze Kluften und ziehen sich Kapuzen über. Männer, die sie Übergriffen gegen Frauen verdächtigen, vermöbeln sie auf offener Straße. Im Salzburger Landestheater klingt dazu harter Hip-Hop, während sich Sunny, Alva, Femme und Lola die Seelen aus dem Leib tanzen. Gewalt wird an diesem Abend auf der Bühne nicht gezeigt – diese könnte ja die Gefühle der Zuschauer "verletzen".

Wohl noch nie wurde Wokeness bei den Salzburger Festspielen auf eine derart explizite Weise thematisiert, noch nie hat man hier die Themen Mutterschaft und Care-Arbeit, MeToo und Frauen-Solidarität mit einer derart expliziten Botschaft zu einem Theaterabend verrührt. Die 40-jährige Salzburgerin Mareike Fallwickl hat dafür mit ihrem 380-Seiten-Roman "Die Wut, die bleibt" die Vorlage geliefert. Entstanden während der Pandemie, als viele Familien – und noch mehr Mütter – nahe am Nervenzusammenbruch standen, verfasste sie ein bei Rowohlt erschienenes Gedankenexperiment, an dessen Anfang eine einfache Frage stand: Was passiert, wenn eine Mutter beim Abendessen mit Mann und drei Kindern einfach aufsteht und sich vom Balkon stürzt?

Helene macht genau das auf der ersten Seite von Fallwickls Roman, und schon nach wenigen Seiten versteht man auch, warum. Das Studium hat Helene abgebrochen, als sie ihr erstes Kind bekam, der Teilzeitjob, in dem sie schuftet, bis sie am Nachmittag die Kinder aus dem Kindergarten oder der Krippe holt, ist schlecht bezahlt, der Mann ein arbeitender Abwesender, die Kinder sind nicht selten eine Plage. Mit gerade einmal 40 sind alle Zukunftshoffnungen Makulatur, aus der coolen Revoluzzerin, die einmal die Welt verändern wollte, ist ein Muttertier geworden.

Max Landgrebe (Johannes), Anja Herden (Sarah) und Nellie Fischer-Benson (Lola) in "Die Wut, die bleibt"
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Den Part der Revolutionärin übernimmt mittlerweile die 15-jährige Tochter Lola, die sich mit ihrer besten Freundin Sunny einer Gang von "Regenbogenmädels" anschließt, die ihr Selbstbewusstsein durch Selbstverteidigung stärkt. Sie treten an gegen ein System, das Frauen kaputt macht, indem es sie in ein Korsett aus Körperidealen und Verhaltensweisen zwängt. Ihre Überzeugung: "Wir leben in einer allumfassenden Rape-Culture." Statt Heteronormativität, Fat- und Slut-Shaming zelebrieren sie frauenübergreifende Liebe und Verständnis. Dass das auf einer Bühne nicht gut gehen kann, verstünde sich nach Jahrzehnten, in denen sich Theater an gesellschaftspolitischen und explizit feministischen Utopien mit vielen "Ja, aber" abgearbeitet haben, eigentlich von selbst.

Im Salzburger Landestheater geht es aber gut, und das ist wohl auch der Grund, warum nach zwei pausenlosen Stunden ein Teil des Publikums verzückt in Standing Ovations ausbrach, während ein anderer ziemlich perplex sitzen blieb. Aus einem postfeministischen Roman mit vielen richtigen Diagnosen und manch doppelten Böden hat Regisseurin Jorinde Dröse einen, pardon, vulgärfeministischen Aktionstheaterabend gemacht. "Frauen wie wir", sprechen die Protagonistinnen am Ende mit provokativem Blick ins Publikum "werden überall gebraucht."

Dabei hegte man noch die Hoffnung, dass bei der Dramatisierung des Buches statt heißer Anteilnahme die kalte Bestandsaufnahme überwiegen würde. Doch die Groupies, pardon Crew vom Staatstheater Hannover, wohin der Abend nach der Spielserie in Salzburg übersiedeln wird, umarmen Fallwickls Geschichte zweier Frauengenerationen ab der ersten Minute zu Tode.

Szene aus dem Stück 'Die Wut, die bleibt'
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Katja Haß hat für die schnellen Szenenwechsel ein recht praktikables, aber ziemlich reizloses Bühnenbild gezimmert. In einer Schuhschachtel im ersten Stock spielen die Innenszenen, wahlweise jene in Helenes Wohnung bzw. in jener ihrer besten Freundin Sarah, einer Krimiautorin, die nach Helenes Tod eher unfreiwillig als Mutter einspringt. Zu ebener Erde tobt sich zwischen Boxsack und Stiegenaufgängen dagegen die next feminist generation rund um Tochter Lola aus. Dass sich die Judith Butler- und die Wokeness-Jüngerinnen mehr aneinander als an anderen reiben, liegt in der Natur der Sache.

Während sich die 40-jährige Sarah (Anja Herden) als emanzipierte Frau mit jungem Lover (Fabian Dott) fühlt, beschuldigt sie Lola (Nellie Fischer-Benson) vom Patriarchat in Gestalt von Helenes Mann Johannes (Max Landgrebe) vereinnahmen zu lassen. So altmodische Dinge wie Rechtsstaat oder Unschuldsvermutung lehnt sie ab, statt sich von gesellschaftlichen Regeln unterwerfen zu lassen, nimmt sie und ihre diversen Freundinnen diese selbst in die Hand. Erst als Sarah für Lola in der Schule in die Bresche springt, kommt es zum matriarchalen – und auf der Bühne des Landestheaters ausgiebig gefeierten – Schulterschluss. Zu diesem Zeitpunkt hat die recht eindeutige Botschaft des Abends jegliche inhaltlichen und ästhetischen Differenzierungen schon lange hinter sich gelassen.

Aus ihrer Schablonenhaftigkeit entwächst denn kaum eine der Schauspielerinnen, Männer sind sowieso nur Waschlappen. Am vielseitigsten ist noch die Helene der Johanna Bantzer, die gleichermaßen als Erzählerin, Protagonistin als auch in diversen Nebenrollen der Motor des Abends ist. Dass dieser den Nerv aktueller Debatten trifft, ist evident – allerdings auch, dass er dies mit einer groben Machete statt mit feiner ästhetischer Klinge macht. (Stephan Hilpold, 19.8.2023)