Als "tickende Zeitbombe" bezeichnete US-Präsident Joe Biden jüngst den wirtschafts- und geopolitischen Rivalen China. Diese drastische Wortwahl hängt wohl auch mit einem amerikanischen Hang zur Dramatik zusammen, doch in der chinesischen Wirtschaft kriselt es tatsächlich ordentlich. Zwei Aushängeschilder für die problematische Lage sind die Immobilienriesen Evergrande und Country Garden. Evergrande etwa hat Ende vergangener Woche Gläubigerschutz in New York beantragt, Country Garden berichtet von Zahlungsschwierigkeiten.

Video: Der chinesische Immobilienentwickler Evergrande hat sich in den USA für zahlungsunfähig erklärt
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Doch die Probleme reichen weit über den aufgeblasenen Immobiliensektor hinaus: das Wachstum schwach, die Jugendarbeitslosigkeit hoch wie nie, die Schulden steigend, der Konsum rückläufig. Sogar der Sprech der politischen Führung in Peking ändert sich mittlerweile. Präsident Xi Jinping spricht von langfristigen Zielen bei Bildung, Gesundheit und Lebensmittelversorgung, die er über kurzfristigen materiellen Wohlstand stellt. Er mahnt die Bevölkerung zur Geduld. DER STANDARD hat sich angesehen, wo es überall hakt.

Eine chinesische Stadt mit einem großen Country Garden Logo
Nach dem Immo-Riesen Evergrande vermeldet mit Country Garden der nächste Gigant am Markt Zahlungsschwierigkeiten.
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Kriselnder Immobiliensektor

Die Bau- und Immobilienbranche hat in den vergangenen Jahren rund ein Viertel der chinesischen Wirtschaftsleistung ausgemacht, dementsprechend gehört dieser Sektor zu den größten Sorgenkindern im Reich der Mitte. Im September 2021 fingen beim zweitgrößten Immobilienentwickler des Landes die Zahlungsprobleme an akut zu werden, die Insolvenz wurde damals mehr oder weniger mit staatlicher Hilfe verschleppt, DER STANDARD hat berichtet.

Bereits seit Jahren galt der chinesische Immobilienmarkt als überhitzt, nun brechen die Preise ein. Es wurde immer mehr und immer mehr Geld in den Sektor gepumpt, und es wurde zum Trend, Wohnungen zu kaufen, die noch nicht gebaut waren. Bald wurde der Bau von bereits verkauften Wohnungen durch den Verkauf neuer Wohnungen finanziert – die Dynamik erinnert an ein Pyramidenspiel.

30 Jahre stiegen die Preise im Immo-Sektor. Eigentumswohnungen waren für die Chinesen so beliebt wie in Österreich und Deutschland jahrzehntelang das Sparbuch. Gekauft wurde überwiegend auf Pump. 2021 griff die Regierung dann ein, um das schuldenbasierte Wachstum zu bremsen. Die neuen Vorgaben (Verhältnis der Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten unter 70 Prozent, Nettoverschuldungsgrad nicht höher als 100 Prozent, Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten größer als Faktor eins) haben gezeigt, wie tief das Problem sitzt.

Konsum hat Long Covid

Ende des vergangenen Jahres hat die Staatsführung die langen und sehr strikten Corona-Regeln aufgehoben, in der Hoffnung, die Leute würden ihre Ersparnisse großzügig ausgeben. Doch dem ist nicht so. Sie horten ihr Geld. Es wurde eine Reihe von Konjunkturmaßnahmen ergriffen – von der Ankurbelung der Nachfrage nach Autos und Haushaltsgeräten über die Lockerung einiger Immobilienbeschränkungen bis hin zur Unterstützung des Privatsektors.

Doch bisher lässt eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung auf sich warten. Viele Menschen geben zwar wieder Geld für Reisen und Restaurants aus, doch bei größeren Anschaffungen halten sie sich zurück. Die zahlreichen Lockdowns und Ausgangssperren führten aber ebenfalls dazu, dass zahlreiche Lokale und kleinere Geschäfte aufgeben mussten. Der Service-Sektor brach ein.

Der chinesische Präsident Ji Xinping vor einer roten Fahne
Präsident Xi Jinping mahnt seine Landsleute zur Geduld. Es gehe um langfristige positive Entwicklungen im Land und nicht um kurzfristigen Wohlstand.
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Weniger Exporte und Importe

China leidet derzeit unter einer eingebrochenen Auslandsnachfrage – der Exportmotor stottert, was die Sorgen hinsichtlich der Konjunkturentwicklung verstärkt. Aber nicht nur die Exporte, auch die Importe Chinas sind im Juli schneller als erwartet zurückgegangen. Nach bereits starken Rückgängen in den Vormonaten sanken laut der Zollbehörde in Peking die Exporte im Juli im Jahresvergleich in Dollar gemessen um 14,5 Prozent.

Die Importe verzeichneten einen ähnlich deutlichen Rückgang um 12,4 Prozent. Beide Werte fielen noch schlechter aus als von Analysten erwartet. Mit der gesamten EU und den USA ging der chinesische Handel zurück. Ganz anders stellt sich die Lage zwischen Russland und China dar. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben die chinesischen Exporte in das Nachbarland deutlich angezogen. Im Juli stiegen sie im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 50 Prozent.

Hafen China ist hell beleuchtet in der Nacht. 
Der chinesische Exportmotor kommt seit Ende der Corona-Maßnahmen nicht richtig auf Touren.
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Folgenschwere Maßnahmen von USA und EU

Das von den USA angestoßene "De-Coupling" und das von der EU in abgeschwächter Form aufgenommene "De-Risking" waren ein weiterer schwerer Schlag, denn die Direktinvestitionen in China sind danach massiv zurückgegangen. Darüber hinaus verschrecken immer neue Regeln innerhalb Chinas, die angeblich der nationalen Sicherheit dienen sollen, Investoren aus dem Ausland. Verbindlichkeiten für direkte Investitionen, eine wichtige Messgröße, fielen im zweiten Quartal verglichen zum Vergleichszeitraum um fast 90 Prozent auf ein 25-Jahrestief von 4,9 Milliarden Dollar.

In die Deflation gerutscht

Im Gegensatz zu den meisten westlichen Staaten, die gegen hohe Inflationsraten kämpfen, sinken in China die Preise. Das Land ist in einer Deflation angekommen, was für Verbraucher den angenehmen Effekt mit sich bringt, dass alles billiger wird. Viele Ökonominnen und Ökonomen fürchten diese Entwicklung allerdings sehr, denn üblicherweise führen fallende Preise dazu, dass Verbraucher ihre Konsumentscheidungen aufschieben. In der Folge wird weniger gekauft, weswegen die Unternehmen weniger produzieren, eventuell Leute entlassen und so eine gesamte Volkswirtschaft in die Rezession rutscht.

Weißes Auto steht in Autogeschäft neben einem roten. 
Mit großen Anschaffungen halten sich die Chinesinnen und Chinesen aktuell zurück, die wirtschaftliche Unsicherheit ist zu groß. Außerdem sinken die Preise.
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Hohe Jugendarbeitslosigkeit

Die prekäre Wirtschaftslage spiegelt sich auch in der historisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in den Städten wider, die mittlerweile auf 21,3 Prozent angestiegen ist. Auch hier spielt die rigide Corona-Politik eine Rolle. Viele Studenten zogen vor, ihr Studium zu verlängern, anstatt sich um Jobs zu bewerben. Das bringt heruntergebrochen ein weiteres Problem mit sich: Die Ausbildung junger Chinesinnen und Chinesen geht am Bedarf vorbei. Es gibt eine "Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten, die Hochschulabsolventen erworben haben, und dem, was von Arbeitgebern in der Industrie mit einem stark wachsenden Personalbedarf gesucht wird", heißt es bei Asien-Spezialisten der US-Investmentbank Goldman Sachs.

Auswirkung auf Finanzbranche

Die Immobilienkrise droht überdies auf die Finanzbranche überzugreifen. Zhongrong International Trust, einer der führenden Anbieter der in China weitverbreiteten Treuhandfonds, hat gegenüber Investoren "kurzfristige Liquiditätsschwierigkeiten" eingeräumt und seit Ende Juli die Rückzahlungen auf Dutzende seiner Produkte ausgesetzt, wie ein Teilnehmer eines Treffens mit Anlegern berichtete. Zhongrong ist traditionell beträchtlich im Immobilienmarkt investiert. Auf das Geld aus diesen Treuhandfonds (Trusts), die zu den unregulierten Schattenbanken gezählt werden, hatten viele Immobilienentwickler bei ihrer fast ungezügelten Expansion in den vergangenen Jahren gebaut. Nun werden Ansteckungseffekte befürchtet, und der Ruf nach dem Staat wird laut.

Arbeitsamt in China. Frau spricht mit jungem Mann über Job
Mehr als 20 Prozent der 16- bis 24-Jährigen waren zu Sommerbeginn ohne Job. Aktuelle Daten verrät die Regierung nicht mehr.
AFP/JADE GAO

Noch mehr Intransparenz

Es herrscht generell große wirtschaftliche Unsicherheit im Land, die durch zunehmende Intransparenz noch weiter verstärkt wird. Behörden halten zunehmend Daten zurück und verraten beispielsweise keine Zahlen mehr zur Jugendarbeitslosigkeit. Wirtschaftsforschende wurden zuletzt angehalten, sich nicht negativ über die aktuelle Wirtschaftslage zu äußern. Zudem lassen sich Unternehmen praktisch nie in die Bücher schauen, und man weiß nicht genau, wie groß die Risikolage gerade ist, das ist allerdings nicht wirklich neu.

Angekündigte Gegenmaßnahmen

Nach der überraschenden zweiten Leitzinssenkung der chinesischen Notenbank vergangene Woche reduzieren nun auch die großen chinesischen Banken ihre Kreditzinsen. Das bezieht sich aber nur auf einjährige Kredite und nicht auf fünfjährige Darlehen. Dieser fünfjährige Zins ist allerdings besonders wichtig für das Niveau der Immobilienkredite. Überdies versucht die Notenbank nervöse Investorinnen und Investoren zu beruhigen. Das Land werde seine Finanzhilfen koordinieren, um die Schuldenprobleme lokaler Regierungen zu lösen, teilte die Zentralbank am Sonntag mit. Die Analyse von Risiken müsse zudem verbessert werden. Große Banken sollten ihr Kreditvolumen erhöhen. (Andreas Danzer, 22.8.2023)