Menschen stehen auf Plattform
Der vergleichsweise junge Fachbereich der Netzwerkwissenschaften erlebte in den vergangenen Jahrzehnten einen Boom.
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Wenn eine Verbindung da ist, gibt es immer auch ein Netzwerk. So bringt es die Psychologin und Netzwerkwissenschafterin Mirta Galesic auf den Punkt. Und meint damit: Fast nichts steht isoliert für sich. Alles ist irgendwie an weitere Dinge geknüpft, mit anderen Komponenten verwoben und in ein größeres Ganzes eingebunden. Und genau für solche Zusammenhänge interessiert sich die Netzwerkwissenschaft.

Das wurde einmal mehr auch während der diesjährigen International School and Conference on Network Science (NetSci) deutlich. Die weltweit größte Konferenz für Netzwerkwissenschaften fand im Juli erstmals in Wien statt, organisiert wurde sie vom Complexity Science Hub Vienna sowie der Central European University.

Glaubenskriege im Internet

Galesic, Professorin am Santa Fe Institute in New Mexico und eine der Hauptrednerinnen der Konferenz, forscht zu Glaubensnetzwerken. Sie versucht zu verstehen, wie Individuen Überzeugungen ausbilden, wie diese intern miteinander verstrickt sind und wie sie sich dann nach außen in einem sozialen Netzwerk auswirken.

In ihrer Forschung hat Galesic über mehrere Jahre hinweg Online-Kommentare von US-amerikanischen Zeitungsforen analysiert und ausgewertet. Dabei konnte sie herausfinden, dass ein Glaubenssatz nie für sich allein steht, sondern immer an weitere Glaubenssätze gekoppelt ist. "Die politische Einstellung beeinflusst beispielsweise Glaubenssätze bezüglich Abtreibung, Klimawandel oder Impfungen", erklärt Galesic.

Genau diese Eingebundenheit eines einzelnen Glaubenssatzes in ein ganzes Netzwerk ist auch der Grund, warum sich Glaubenssätze so schwer ändern lassen, wenn eine Person sie einmal gebildet hat: Man müsse nämlich an mehreren Glaubenssätzen gleichzeitig rütteln, um Überzeugungsänderungen erreichen zu können.

Am ehesten schaffen das übrigens vertraute Personen: Stammen die Anregungen von Freundinnen oder Freunden, können individuelle Glaubenssätze eher geändert werden. Kommen die Anregungen hingegen eher von oben, also etwa von der Regierung oder den Medien, ist dies viel schwieriger möglich.

Medizinisches Wechselspiel

Mit einem ganz anderen Netzwerk beschäftigt sich Elma Dervić, Postdoktorandin am Complexity Science Hub Vienna. In ihrer Kurzpräsentation auf der NetSci 2023 hat sie ihr Forschungsprojekt zu sogenannten Multimorbiditätsnetzwerken vorgestellt.

Von Multimorbidität spricht man, wenn eine Person an mehreren Krankheiten leidet. Anstatt eine einzelne Krankheit in den Blick zu nehmen, versucht Dervić ganze Krankheitsverläufe zu verstehen und interessiert sich dafür, wie Krankheiten miteinander zusammenhängen.

Anhand von rund 45 Millionen Dokumentationen von Spitalsaufenthalten konnte sie Krankheitsverläufe in großer Zahl untersuchen, Korrelationen zwischen verschiedenen Krankheiten erkennen und die Ergebnisse in enger Zusammenarbeit mit Ärzten und Medizinerinnen des AKH Wien interpretieren.

Leidet beispielsweise jemand ab dem 20. oder 30. Lebensjahr an einer Schlafstörung, so ist das Risiko für Stoffwechselerkrankungen ab dem 40. oder 50. Lebensjahr erhöht. "Dabei ist aber zu betonen, dass es sich nicht um Kausalitäten handelt", erklärt Dervić.

Spätere Erkrankungen vermeiden

Mit derartigem Wissen könne man aber Bewusstsein dafür schaffen, dass manche Menschen für gewisse Krankheiten anfälliger seien als andere. Wenn man in Zukunft mehr über solche Zusammenhänge Bescheid weiß, dann können Ärztinnen und Ärzte früher intervenieren und rechtzeitig mit Präventionsmaßnahmen beginnen, sodass sich eine Erkrankung bei einem Patienten oder einer Patientin im besten Fall nie ausbilden wird.

Die beiden renommierten Forscherinnen und ihre unterschiedlichen Forschungsgebiete sind beispielhaft für das breite und interdisziplinäre Feld der Netzwerkwissenschaften, das auf der diesjährigen NetSci-Konferenz abgebildet wurde. Insgesamt 850 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus 50 Ländern und Disziplinen wie Medizin, Informatik, Physik, Biologie und Psychologie kamen im Hauptgebäude der Universität zusammen, um ihre Forschung vorzustellen, über ihre Projekte zu diskutieren und sich über wissenschaftliche Ergebnisse auszutauschen.

So schwierig die Netzwerkwissenschaften aufgrund der Komplexität und Vielfältigkeit ihrer Untersuchungsgegenstände pointiert zu fassen sind, zog sich doch ein roter Faden durch das Konferenzprogramm: Netzwerke durchdringen alle Aspekte unseres Lebens. Sie finden sich nicht nur im technisch geprägten Alltag auf Computern und Smartphones oder im Bankensystem wieder. Vielmehr sind sie auch essenzieller Teil des Handels, spielen eine große Rolle im Gesundheitssystem und in unserem Körper. Nicht zuletzt sind wir alle auch in soziale Netzwerke eingebunden.

Enorme Datenmengen

Eine große Herausforderung für die Forschenden stellt dabei die Bewältigung der riesigen Datenmengen dar, die sich aufgrund der Komplexität von Netzwerken ergeben. Die Beziehungen der einzelnen Daten zueinander und der Einfluss, den diese aufeinander ausüben, ist und bleibt eines der zentralen Forschungsinteressen der Netzwerkwissenschaft.

Ein Ziel der diesjährigen Konferenz war es, besonders viele Frauen vor den Vorhang zu holen und ihre wissenschaftliche Expertise sichtbar zu machen. Denn sie sind in naturwissenschaftlichen oder technischen Fächern immer noch viel zu oft unterrepräsentiert.

Dass dieses Vorhaben gelang, zeigt nicht nur die hohe Anzahl an Gastrednerinnen, sondern auch der diesjährige Rekord an Besucherinnen und Besuchern, wie das NetSci-Organisationsteam betont. (Marlene Lanzerstorfer, 27.8.2023)