Die 1990er-Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs. Der Fall des Eisernen Vorhangs schürte Hoffnungen auf ein neues globales Miteinander. Gemeinsam mit dem Effizienzversprechen des heraufdämmernden Digitalzeitalters entstanden Narrative von globalen Dörfern und Multikulti-Communitys. Der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts, die so schwer wog, wurde nach der globalen Peinlichkeit der Waldheim-Affäre sogar in Österreich eine späte Aufarbeitung zuteil. Neue Debatten wurden möglich.

Der Aufbruch ging auch mit einer Entstaubung jener Wissenschaften einher, die sich mit der sozialen, politischen und kulturellen Gegenwart auseinandersetzten. Im Zentrum der Erneuerung stand der Begriff der Kulturwissenschaft, der auf eine neue Reflexion über Identität und Differenz, Hegemonialvorstellungen und politische und mediale Dynamiken in der Produktion und Fortführung kultureller Bedeutungen verwies.

Protest Romania
Die Analyse von sozialen Kämpfen stand zu Beginn der Cultural Studies. Ende der 1990er-Jahre kam es im deutschsprachigen Raum zu den ersten Gender-Studies-Angeboten, die auch aus der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Identität, Geschlecht und Politik resultierten.
AP Photo/Vadim Ghirda

Zwischen den Disziplinen

Bereits 1993 nahm das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien den Betrieb auf. Getragen von der Erneuerungsbewegung der Disziplin sollte es Theorien und interdisziplinäre Herangehensweisen in der Erkundung des kulturellen Bedeutungsgeflechts vorantreiben. Von Anfang an wurden Wissenschaftstreibende als Fellows eingeladen, um hier ein Semester lang in Ruhe ihre Forschungsfragen zu vertiefen. Ursprünglich als außeruniversitäre Forschungseinrichtung gegründet, wurde das IFK 2011 an die Kunstuni Linz angebunden, seit 2015 firmiert es als offizielles Zentrum der Hochschule. Seit 2016 wird es von dem Kulturhistoriker Thomas Macho geleitet, Kodirektorin ist die Vizerektorin für Forschung an der Kunstuni, die Kulturwissenschafterin Karin Harrasser.

Zum 30-jährigen Bestehen fand vergangene Woche die Tagung "Where are we now? Kulturwissenschaftlich arbeiten 1993–2043" statt, wobei die Jahreszahlen nicht nur auf eine Rückschau verweisen, sondern auch auf – vielleicht unbekannte – künftige Herausforderungen. Gleichzeitig sollen Methodiken und Arbeitsweisen reflektiert werden.

Kunstwerk mit Titel
Auf der Suche nach einer kulturellen Standortbestimmung: Ruth Wolf-Rehfeldts Kunstwerk "Wo stehen Sie?" aus den späten 1970er-Jahren.
Ruth Wolf-Rehfeldt, Private Collection

Thomas Macho verweist darauf, dass der Begriff der Kulturwissenschaft schon Anfang des 20. Jahrhunderts präsent war. Verbunden war er mit Namen wie Walter Benjamin, Sigmund Freud, Ernst Cassirer oder Aby Warburg, einem Kunsthistoriker, der für seine "kulturwissenschaftliche Bibliothek" bekannt wurde, oder dem Historiker Johan Huizinga, der den Ursprung der Kultur im Spiel der Menschen verortete. "Huizinga betitelte eine Rezension der gesammelten Schriften Warburgs mit ‚Ein kulturwissenschaftliches Laboratorium‘ – ein Titel, der bis heute modern anmutet", hebt Macho hervor. Die Moderne als Laboratorium der Ideologien und Denkschulen wurde schließlich auch eine Einflussgeberin der Kulturwissenschaften von heute.

Thomas Macho
Der Philosoph und Kulturhistoriker Thomas Macho ist seit 2016 Direktor des IFK.
Jan Dreer / IFK

Beginn der Gender-Studies

Der zweite wichtige Impuls kam aus dem angloamerikanischen Raum, besonders von Stuart Hall und anderen Forschenden der Birmingham School of Cultural Studies. "Die Analyse von Klassenfragen und ethnischen Aspekten in sozialen Kämpfen wurde zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Cultural Studies, die in den 1990ern auch verstärkt im deutschsprachigen Raum aufgegriffen wurden", erklärt Macho. Ende der 90er entstanden in Deutschland etwa erste universitäre Gender-Studies-Angebote, die auch aus der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Identität, Geschlecht und Politik resultierten.

Dabei war die Kulturwissenschaft niemals eine rein universitäre Denkrichtung. "Als Erneuerungs- und Vernetzungsprogramm der Sozial- und Geisteswissenschaften hat die Kulturwissenschaft ihre Wirkung stark außerhalb der Hochschulen entfaltet", betont Karin Harrasser. Ihre Art der Reflexion ist genauso in Theatern, Filmen oder Redaktionen beheimatet. Ihre Konzepte haben die künstlerische Forschung, den Essayfilm und moderne Ausstellungspraktiken mitgeprägt.

Selbst in der Therapie ist das Paradigma der Kulturwissenschaft relevant, etwa in der interkulturellen Arbeit mit Migranten, gibt Harrasser ein Beispiel. "Angehörige verschiedener Kulturen gehen unterschiedlich mit Angst um. In der Arbeit mit Patienten muss man also einen reflektierten Kulturbegriff einsetzen." Auf der IFK-Tagung wird Ulrike Kluge, die das Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité leitet, dazu vortragen. Ein Schwerpunkt am IFK, der besonders viel Resonanz erfahren hat, handelt von den "Kulturen des Übersetzens", die für die Bildung transnationaler Identitäten und eines geteilten kulturellen Gedächtnisses wertvolle Dienste leisten.

Karin Harrasser
Karin Harrasser, Vizerektorin für Forschung an der Kunstuni Linz und Kodirektorin des IFK.

Kulturdebatten im Wandel

In den drei Jahrzehnten seit 1993 haben sich die Debatten in den Kulturwissenschaften verändert. Der Kampf um das Gedenken an den Kulturbruch des Nazi-Regimes ist weitgehend ausgefochten. Andere Aufarbeitungsthemen und eine "Konkurrenz der Erinnerungskulturen", etwa im Verhältnis des Holocaust zum Kolonialismus, sind aufgetaucht.

Der Wandel zu einem neuen Selbstverständnis von Geschlecht und sexueller Orientierung wird von den Kulturwissenschaften begleitet. Neue Denkansätze rund um das Anthropozän beziehen sich auf die Klimakatastrophe und ihre ethischen und sozialen Implikationen. Die Produkte von künstlicher Intelligenz in ihrem Verhältnis zur menschlichen Schaffenskraft werden noch Aufgaben bereithalten. Im Schwerpunkt "Andere Arbeit" werden am IFK etwa die Veränderungen der Arbeitswelt in den Fokus gerückt. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Bedeutung für soziale Disposition und Alltagskulturen verlangen ebenso nach Reflexion – ein Thema, dem sich Macho selbst widmen möchte.

"Manche Themen kommen immer wieder, wenn auch in veränderter Weise", sagt Harrasser. Die frühe Globalisierungsdebatte der 1990er sah eine zunehmende Bewegung von Menschenströmen und die Entstehung multikultureller Gesellschaften. "Neu dazugekommen ist eine Betrachtung, die das Verhältnis von globalem Austausch und lokalem Situiertsein miteinbezieht. Das inkludiert Fragen wie: Darf man an einem Ort überhaupt bleiben?", betont die Kulturwissenschafterin. "Aus heutiger Sicht erscheint die Globalisierungsdebatte der 1990er eindimensional." (Alois Pumhösel, 19.6.2023)