Innenansicht eines Autoturms in der Autostadt von Volkswagen in Wolfsburg. Ein roter Passat und ein ocker-farbener T-Roc im Auslieferungszentrum für Neuwagen in der Vogelperspektive.
Bei der Auslieferung der Neuwagen aus der Autostadt von Volkswagen in Wolfsburg ist die Welt noch in Ordnung. Die Probleme mit manipulierten Dieselabgaswerten kamen erst viel später ans Tageslicht.
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Die Chance, dass die im VKI-Sammelverfahren am Landesgericht St. Pölten mit mickrigem Schadenersatz abgespeisten Kläger doch noch mehr zugesprochen bekommen, steigt. Denn der Oberste Gerichtshof (OGH) hat in seinem jüngsten Urteil zum VW-Schummeldiesel andere Maßstäbe angelegt als der Richter in St. Pölten Mitte Juli.

Laut dem Spruch mit der Aktenzahl 6Ob150/22K vom 18. August spricht der OGH einer Fahrzeughalterin, die ihren VW Tiguan im Frühjahr 2015, also kurz vor Ausbruch des Dieselskandals, erworben hatte, im Zuge der Rückabwicklung des Kaufs mehr Geld zu, als der Pkw vor acht Jahren gekostet hatte. Der Kaufpreis betrug seinerzeit 28.375 Euro: Jetzt bekommt die Frau allein von Volkswagen 23.700 Euro rückerstattet zuzüglich 5200 Euro an Vergütungszinsen.

Zug um Zug

Darüber hinaus muss auch der Händler 2500 Euro an Zinsen zahlen. Macht selbst nach Abzug des Benutzungsentgelts, das der Klägerin für die gefahrenen 50.000 Kilometer in Rechnung gestellt wurde, in Summe 31.500 Euro. Dieser Betrag wurde der Klägerin gegen Rückgabe des Fahrzeugs zugesprochen.

Diese Einzelfallentscheidung wird von Juristen auch deshalb als beispielhaft bezeichnet, weil der Unterschied zu den vom Verein für Konsumenteninformation (VKI) angestrengten Verfahren eklatant ist: Hätte die Tiguan-Besitzerin keine Rechtsschutzversicherung gehabt, wäre sie im Sammelverfahren in St. Pölten gelandet und hätte gemäß dem – nicht rechtskräftigen – Urteil in St. Pölten schlanke 5,15 Prozent des Kaufpreises als Wertminderung zugesprochen bekommen.

Weniger als zehn Prozent

Wohl sind Klagen auf Wandlung oder Rückabwicklung des Kaufvertrags und jene auf Wertminderung zwei verschiedene Paar Schuhe. Gegen null wie im St. Pöltner Ersturteil für einzelne Fahrzeugtypen kann die Wertminderung aber selbst bei exzessivem Gebrauch des schadhaften Pkws nicht gehen. Das Höchstgericht hält wohl fest, dass der Schadenersatz für jedes Fahrzeug individuell zu ermitteln ist. Allerdings "geht es nicht an, den Käufern, die die Wandlung nicht zu vertreten haben, die – gerade bei neuen Fahrzeugen oder Geräten am Anfang sehr hohe – Wertminderung durch Zeitablauf (‚degressive Abschreibung‘) anzulasten", schreibt der OGH unter Verweis auf die Rechtsprechung.

Ebenso wenig hätten die Käufer die merkantile Wertminderung zu tragen, die durch eine verzögerte Rückabwicklung eintrete. Denn durch eine Bemessung der Bereicherung nach der Wertminderung des Guts werde nicht der Gebrauchsnutzen des rückabwicklungsberechtigten Käufers abgeschöpft, sondern der Vermögensnachteil des vertragswidrig handelnden Verkäufers ausgeglichen. Deshalb sei dem Käufer nur der Anteil an der Wertminderung abzuziehen, der auf die gebrauchsbedingte Abnützung zurückzuführen sei. Die gängige Händlereinkaufspreismethode ist dafür laut OGH nur bedingt geeignet.

Minimale Preisnachlässe

Wie berichtet wurden den rund 700 Geschädigten im St. Pöltener VKI-Sammelverfahren lediglich minimale Preisnachlässe zugestanden. Richter Kurt Novak hatte wohl beschieden, dass der Schaden zum Ankaufzeitpunkt zu bestimmen sei. Der Schaden für die Fahrzeughalter wurde dann allerdings anhand eines nicht funktionierenden, quasi betrogenen Marktes berechnet, denn mit dem Softwareupdate war eben nicht alles okay, der Mangel eben nicht behoben, wie der Europäische Gerichtshof und in der Folge der OGH beschieden.

Der methodische Fehler führte dazu, dass den Betroffenen, für die in St. Pölten über einen Preisnachlass von 20 Prozent verhandelt wurde, maximal 8,73 Prozent des Kaufpreises an Schadensminderung zugesprochen wurde. Geschädigte mit einem Seat Leon bekämen gar nichts, während der wenig verbreitete VW Eos die höchste Schadensberechnung auswies. Nach dem Sachverständigengutachten im Verfahren geht der Ersatz in vielen Fällen nicht über 200 Euro hinaus.

Dass die Nutzungsmöglichkeit der betroffenen Fahrzeuge trotz Aufspielens der Reparatursoftware eingeschränkt ist, wurde überhaupt völlig ausgeblendet – obwohl diverse Schummeldieselfahrzeuge vom Entzug der Zulassung bedroht sind, seit das Landgericht Schleswig die Rechtmäßigkeit der Typprüfgenehmigung durch das deutsche Kraftfahrtbundesamt infrage stellte. Wird dieses von der Deutschen Umwelthilfe angestrebte Urteil in der nächsten Instanz bestätigt, droht Millionen von VW-, Seat-, Audi- und Škoda-Fahrzeugen mit EA189-Motoren in Europa die Stilllegung.

Nur ein Bruchteil

"Der positive Abschluss des Falles einer Tullnerin macht unbefriedigende Unterschiede der Rechtssprechung deutlich", sagt der Rechtsvertreter der Tiguan-Besitzerin aus Tulln, Anwalt Michael Poduschka. "VW hat hier zur Verfahrensbeendigung vor einem halben Jahr 35 Prozent angeboten (und nicht eineinhalb Jahren, wie irrtümlich angeführt), der OGH hat nun im Ergebnis 60 Prozent (unter Berücksichtigung der Fahrzeugrückgabe) zugesprochen. Ohne Rechtsschutz wäre der Mandantin im Sammelverfahren in Sankt Pölten nur ein Bruchteil zugesprochen worden." Selbst unter Berücksichtigung der wenigen Kilometer, die die Tiguan-Besitzerin zurückgelegt hat, könne es nicht sein, dass diejenigen, die es sich Einzelklagen leisten können, bis zum Zwölffachen dessen erhalten, was jene bekommen, die auf den kollektiven Rechtsschutz vertrauen, sagt der auf Dieselklagen spezialisierte Linzer Rechtsanwalt. (Luise Ungerboeck, 23.8.2023)