Altkanzler Sebastian Kurz am Landesparteitag der ÖVP Steiermark im Oktober 2017. Damals stand Kurz knapp davor, mit seinen türkisen Gefährten ins Kanzleramt einzuziehen. 
Im Jahr 2017 war für Sebastian Kurz die Welt noch in Ordnung. Die Kanzlerschaft schien zum Greifen nahe.
APA/ Erwin Scheriau

Was gibt es über Sebastian Kurz noch zu sagen, das nicht schon längst erzählt wurde? So gut wie keine politische Ära eines österreichischen Politikers wurde medial so intensiv verfolgt, beschrieben, kommentiert und analysiert wie jene des ehemaligen ÖVP-Chefs.

Obwohl Kurz erst 37 Jahre alt ist, wurden über ihn mehrere Bücher geschrieben und Dokumentationen gedreht. Seine Zeit als Kanzler einer türkis-blauen Koalition füllt seitenweise Ermittlungsakten von Korruptionsjägern. Im Oktober muss Kurz wegen mutmaßlicher Falschaussagen sogar vor Gericht.

Kurt Langbein hat aber noch nicht genug. Der österreichische Filmemacher lässt den Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz ab 21. September nun auch über die Leinwände der heimischen Kinos flimmern. DER STANDARD hat Projekt Ballhausplatz vor der Premiere gesehen.

Filmplakat zu Projekt Ballhausplatz - Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz. Der Altkanzler selbst stand für den Beitrag übrigens für kein Interview zur Verfügung.
Das Plakat zum Film: Die Welt des Sebastian Kurz steht kopf.
Kurt Langbein & Partner

Etwas erwartbar beginnt der Film im Jahr 2010. Es war Wien-Wahlkampf. Ein junger Freiheitlicher namens Johann Gudenus warnte vor der angeblichen Islamisierung. Der frühere rote Jugendwahlkampfleiter Peko Baxant hatte Angst, dass die autoritären Kräfte in der Politik weiter an Macht gewinnen. Kurz hingegen posierte mit breitem Grinsen auf einem schwarzen Hummer, bekannt geworden als Geilomobil. In einem "Geilheitsspender" ließ seine Junge ÖVP "Gummis zum Lutschen" verteilen, die wie Kondome aussahen. Als ernsthaften Konkurrenten hatte Kurz damals noch niemand auf dem Zettel.

In den darauffolgenden 100 Minuten wird in dem Film nicht nur Kurz' Aufstieg minutiös nachgezeichnet, sondern auch dessen Wandlung.

"Wollen Sie einen Krieg mit uns?"

Die Wandlung eines Politikers, der im Wiener Gemeinderat zwar keinerlei Eindruck hinterließ, aber mit 24 Jahren trotzdem rasch zum Integrationsstaatssekretär einer rot-schwarzen Bundesregierung aufgestiegen war – und noch moderate Sätze wie diesen von sich gab: "Es geht nicht immer um die Frage, Kopftuch, ja, nein, Minarett, ja, nein, oder Burka, ja, nein. Das sind populistische Themen, die zweifelsohne Menschen bewegen. Ich glaube aber, dass das nicht der Zugang ist, bei dem man in der Sache was weiterbringen kann."

Das änderte sich, als Kurz Außenminister wurde. Im Film wird von Weggefährten und Beobachtern das Bild eines "in die Weltpolitik gestolperten" jungen Mannes gezeichnet, der auf dem Höhepunkt der Fluchtkrise im Jahr 2015 nicht daran interessiert gewesen sei, ausreichend Quartiere für Geflüchtete zu suchen, sondern in Besprechungen weggedreht am Handy herumgetippt habe; dem der "geniale Bluff" der geschlossenen Balkanroute gelungen sei, wie Migrationsforscher Gerald Knaus im Film erzählt, der im Kern aber Gewalt und Pushbacks an den Grenzen bedeute; und der Film erzählt die Geschichte eines Politikers, der – wenn es in den Umfragen nur anders gekommen wäre – für jede Stimme mehr wohl eine Bootsflotte gechartert hätte, um Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten.

Der spätere Kanzler und seine türkisen Gefährten seien mit "einer Kaltschnäuzigkeit" unterwegs gewesen, "die die Republik noch nicht gesehen hat", sagt Ex-Neos-Chef Matthias Strolz an einer Stelle des Films. Danach wird das so symbolhafte Geilomobil Teil für Teil auseinandergebaut.

Der Film versucht deutlich zu machen, dass es Kurz und Co darum gegangen sei, die gesamte Republik unter Kontrolle zu bringen. Auch die Medien. Beispielhaft dafür steht die Szene von Paul Tesarek. Der frühere ORF-Wien-Fernsehmoderator erzählt über Kurz' angebliche Reaktion, nachdem er den Kanzler während eines Interviews mit einer wohl unerwünschten Videosequenz konfrontiert hatte. "Wollen Sie uns so richtig provozieren, wollen Sie einen Krieg mit uns?", soll ihm Kurz im Nachgang einer Sendung gedroht haben.

Die sogenannte türkise Message-Control reichte aber offenbar sogar bis in die eigenen Vorfeldorganisationen der ÖVP. Jedes Interview, jede Pressekonferenz, jeder Satz habe abgesprochen werden müssen, klagt die Hoteleigentümerin und frühere Funktionärin der Wirtschaftskammer, Petra Nocker-Schwarzenbacher.

In Langbeins Film ist ein Sebastian Kurz zu sehen, dem es in seiner Politik vor allem um "PR-Stunts" gegangen sei und weniger um eine nachhaltige Veränderung Österreichs. Der die Familienbeihilfe für Pflegerinnen aus dem Osten Europas rechtswidrig gesenkt hatte, nur um Stimmen zu erhaschen, aber ohne darüber nachzudenken, was das für die rumänische Pflegerin in der Realität bedeutet. Dies macht der Film nun für ihn.

In Summe ist Projekt Ballhausplatz kein investigativer Beitrag. Der Film lebt nicht von neuen Aufdeckungen. Aber in seiner Gesamtheit zeigt er, was speziell in den eineinhalb Jahren der türkis-blauen Bundesregierung alles möglich war. Und dass eine Festplatte eines gewissen Thomas Schmid die freiheitliche Ibiza-Affäre im Nachhinein – so lautet ein Resümee aus dem Film – wie einen "Kindergeburtstag" erscheinen lässt. (Jan Michael Marchart, 31.8.2023)