Goldener Löwe Venedig
Wer wohl heuer den Goldenen Löwen mit nach Hause nimmt? Letztes Jahr war das Laura Poitras, und auch dieses Jahr sind die US-Amerikaner stark im Rennen.
imago images/Mary Evans

Wettbewerb ohne Stars

Das älteste Festival seiner Art mit dem ehrwürdigen Namen Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica della Biennale di Venezia wurde in den letzten Jahren zur Startrampe für die Award-Season der Amerikaner für die Oscars im Frühling. Direktor Alberto Barbera hat ebenfalls keine Berührungsängste mit Streaminganbietern, auch heuer sind wieder fünf Filme von Netflix in Venedig.

Doch der Arbeitskampf der US-Schauspielenden samt Auftrittsboykott funkt dem Festival bei seiner 80. Jubiläumsausgabe dazwischen, wenn auch weniger als nach Absage des ursprünglichen Eröffnungsfilms von Luca Guadagnino befürchtet. Inzwischen gab es von der Gewerkschaft sogar einige Ausnahmegenehmigungen für Venedig-Auftritte.

Die Abwesenheit der US-Stars am Lido hat auch ihr Gutes: Ohne Promis auf dem roten Teppich gibt es mehr Aufmerksamkeit für die Qualität der Filme selbst. Die Studios verwechseln Vorfreude nur allzu gern mit einem Marketinghype. Davon darf man sich bei den bereits vorab groß beworbenen Biopics "Ferrari", "Priscilla" oder "Maestro" aber nicht ablenken lassen.

Ava DuVernay
Filmemacherin Ava DuVernay ist mit "Origins" im Wettbewerb vertreten – als erste Afroamerikanerin und eine von nur fünf Frauen.
REUTERS

Reizvoller sind da schon die Favoriten im Wettbewerb: Yorgos Lanthimos mit "Poor Things", Oscargewinner Ryûsuke Hamaguchi mit "Evil Does Not Exist" und David Fincher mit "The Killer". Auch der deutschen Produktion mit österreichischer Beteiligung "Die Theorie von allem" von Timm Kröger werden bei den Buchmachern gute Chancen auf einen der Preise eingeräumt. Matteo Garrone ist mit der Flüchtlingsgeschichte "Io Capitano" im Wettbewerb mit dabei, während Ava DuVernay mit "Origin" ein Sachbuch über Rassismus in einen Spielfilm verwandelt hat.

Die Löwen und ihre Jury

Der Goldene Löwe von Venedig macht auch beim Röntgencheck auf dem Flughafen eine gute Figur, das hat Gewinnerin Laura Poitras vergangenes Jahr mit einem ikonischen Schnappschuss bewiesen. Wohin die Löwen heuer ihre Reise antreten, entscheidet eine hochkarätige Jury, der auch Poitras angehört. Den Vorsitz hat nicht Regieveteranin Jane Campion aus Neuseeland inne, sondern der 38-jährige Damien Chazelle.

Mit Mia Hansen-Løve und Martin McDonagh sind noch zwei weitere bekannte westliche Filmautoren Teil der neunköpfigen Jury. Sie vergeben neben dem Goldenen Löwen sieben weitere Preise, darunter auch die (noch immer) nach dem faschistischen Festivalgründer Giuseppe Volpi benannten Schauspielpreise.

Die 90-jährige Regiemeisterin Liliana Cavani und Wong-Kar-Wai-Stammschauspieler Tony Leung Chiu-wai erhalten die Ehrenlöwen für ihr Lebenswerk. Cavani ("Der Nachtportier") bringt mit "L'ordine del tempo" sogar einen neuen Film zum Festival mit.

Auch in den weiteren Sektionen "Orizzonti" und "Orizzonti Extra" sowie "Giornate degli Autori" und "Settimana Internazionale della Critica" werden Preise vergeben. Dazu präsentiert das Festival viele prestigeträchtige Filme außer Konkurrenz. Etwa den letzten Film des im August verstorbenen William Friedkin, "The Caine Mutiny Court-Martial", dessen Premiere posthum Anlass zur Würdigung gibt.

Zar Amir Ebrahimi und Co-Regisseur Guy Nattiv kommen mit "Tatami", der ersten iranisch-israelischen Co-Produktion, nach Venedig. Auch Harmony Korine, Quentin Dupieux, Richard Linklater und Frederick Wiseman stellen neue Werke vor. Der heurige Glory-to-the-Filmmaker-Preis-Träger Wes Anderson kommt mit einem Kurzfilm zum Lido.

Die Oscar- ("Power of the Dog") und Palmen-Gewinnerin ("The Piano") Jane Campion ist heuer Jurymitglied in Venedig.
REUTERS

Provokation und Politik

Der langjährige Festivaldirektor von Venedig, Alberto Barbera, provoziert auch mit 73 Jahren gerne. Heuer hat er gleich drei Filmemacher nach Venedig eingeladen, die anderswo unerwünscht sind: Luc Besson, Roman Polański und Woody Allen. Alle drei sind in unterschiedlichen Fällen mit nicht abschließend geklärten Übergriffsvorwürfen konfrontiert. Im Fall von Polański und Allen liegen sie Jahrzehnte zurück.

Besson feiert im Wettbewerb von Venedig mit "Dogman" ein Comeback, nachdem er in einem Vergewaltigungsverfahren freigesprochen wurde. Eine frühere Assistentin und mehrere Studentinnen seiner Pariser Filmschule haben jedoch weitere glaubwürdige Vorwürfe sexuellen Machtmissbrauchs erhoben, sich aber entschieden, anonym zu bleiben. Besson bestreitet die Vorwürfe.

Luc Besson
Dem französischen Regisseur Luc Besson wird sexuelle Belästigung vorgeworfen, von einer Vergewaltigungsklage wurde er freigesprochen. Sein Film "Dogman" ist im Wettbewerb von Venedig.
AFP

Das Festival kann sich im Zweifel auf Kunstfreiheit und Unschuldsvermutung berufen. Dennoch wirken die Einladungen wie eine gewollte Provokation, als PR-Ersatz für Staraufgebot auf dem roten Teppich. Bei der Filmauswahl rückt Venedig indes näher an eine faire Balance zwischen männlicher und weiblicher Regie. Beim Gesamtprogramm besteht noch ein Überhang von zwei Drittel zu einem Drittel, im prestigeträchtigen Wettbewerb stammen nur vier von 23 Filmen von Frauen, einer von einem Duo.

Leichter tut sich das Festival in ethischen Fragen, wenn es nicht die eigenen Entscheidungen betrifft. Für das Wochenende wurde ein Solidaritätsprotest auf dem roten Teppich für Unterdrückte im Iran angekündigt, aus Anlass der Verurteilung des Regisseurs Saeed Roustaee für seine Festivalteilnahme 2022. Solche ernsten Momente relativieren dann auch die Diskussionen über Stars und Preise. (Marian Wilhelm, 29.8.2023)