Diese Missstände lassen sich mit populistischer Empörungsbewirtschaftung nicht abstellen, schreibt der Integrationsexperte Kenan Dogan Güngör in seinem Gastkommentar.

Illustration einer ausgestreckten Hand mit ablehnender Geste
Ausgrenzung macht Türkeistämmige in Österreich anfälliger für Avancen aus der Türkei.
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In Österreich leben um die 350.000 Türkeistämmige. Das politisch-mediale Interesse an ihnen ist begrenzt auf eine eruptive Empörungswelle nach der anderen. Diese kommen ganz gewiss, seien es die Wahlen in der Türkei, inklusive des zum Teil problematischen Wahlverhaltens innerhalb der Türkeistämmigen hier, die regionalen Konflikte der Türkei mit den Nachbarländern, die Unterdrückung der Kurdinnen und Kurden, der Autoritarismus Recep Tayyip Erdoğans oder, wie jüngst der Fall Mesut Özil zeigte, rechtsextreme Tattoobekenntnisse ehemaliger deutsch-türkischer Nationalspieler.

Das starke Gefühl der Zugehörigkeit zur Türkei führt dazu, dass die Konflikte, Spannungen und Verwerfungen sich auch hier eins zu eins niederschlagen, und das, obwohl viele zum Teil in der dritten Generation in Österreich leben. Das zeigt sich an den Polarisierungen der verschiedenen Gruppen innerhalb der türkeistämmigen Communitys, an der Angst, sich öffentlich oder in sozialen Medien über politische Geschehnisse in der Türkei zu äußern, über die Bespitzelung von Oppositionellen im Ausland, bis hin zu den nationalistisch-islamistischen Strömungen und Gewaltausbrüchen in Favoriten im Jahr 2020.

Pragmatische Doppelmoral

Dabei hätte es auch umgekehrt sein können, ja sollen. Gerade weil die Türkeistämmigen hier in Europa über Generationen in freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten als Minderheiten leben, hätten aus der Diaspora durchaus positive Impulse für die Demokratisierung, Liberalität und Minderheitenrechte in der Türkei ausgehen können. Diese Impulse sind nur viel zu schwach da. Was sich zeigt, ist eine pragmatische Doppelmoral im Wahlverhalten: Man wählt hier, ohne deren politische Grundhaltungen und Werte zu teilen, aus pragmatischen Gründen eher linke und liberale Parteien, weil diese ihre Rechte als Minderheiten schützen. In der Türkei werden dagegen tendenziell rechte beziehungsweise islamistische Parteien gewählt, die im völligen Widerspruch der hier gewählten Parteien stehen.

Tiefe Kluft

Zugleich versucht der größte Teil der Türkeistämmigen, hier in Ruhe zu leben und die eigene gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Das wiederum gelingt ihnen nur in einem bescheidenen Ausmaß. In sozio-ökonomischer und bildungsbezogener Hinsicht geht eine tiefe Kluft mitten durch die türkeistämmige Community. Während einem Teil der soziale Aufstieg in die Mittelschicht gelingt, verharrt der andere Teil in der sozialen Unterschicht, mit wenig generationsübergreifender Veränderungsdynamik. Damit dürfen sich weder die Türkeistämmigen noch die Gesamtgesellschaft zufriedengeben. Über kurzfristig-eruptive Empörungswellen, so berechtigt und manchmal auch selbstgerecht diese auch sind, kommen wir damit nicht hinaus. Denn das ist vielfach nur ein Aufregen und Abarbeiten an den Symptomen und weniger eine Auseinandersetzung mit den Ursachen.

"Wir machen es Erdoğan sehr einfach und beklagen uns darüber."

Für ein differenziertes Verständnis muss auch die andere Seite der Medaille beleuchtet und der Frage nachgegangen werden, welche bewussten und unbewussten Barrieren, Stolpersteine sowie auch Ressentiments hier in der Aufnahmegesellschaft existieren. Nicht um gegenseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern um die Vielschichtigkeit und die Wechselwirkungen besser zu verstehen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Türkeistämmigen in allen europäischen Anwerbeländern mit einer durchwachsenen Anerkennungsbilanz zu kämpfen haben. Die aufgeführten Missstände verstärken die Vorbehalte ihnen gegenüber und sind in Österreich mit am stärksten ausgeprägt. Sie reichen von einer begründeten Skepsis über latente Ressentiments bis hin zum offenen Rassismus. Verstärkt werden die Ressentiments durch die Verschränkung von "Türke- und Muslim-Sein", was einer Doppelung stigmabehafteter Zuschreibungen gleichkommt. In Österreich schwebt zudem die "Türken vor Wien"-Narration noch im kollektiven Gedächtnis und ist mit der Befreiung Wiens während der Türkenbelagerungen eine prägende Quelle der österreichischen Geschichte und Identitätskonstruktion, die immer wieder politisch instrumentalisiert wurde.

Positive Anerkennung

Waren die Türkeistämmigen früher nur die zugewanderten "Gastarbeiter", haben sie sich über die Generationen hinweg immer mehr zu den "etablierten Außenseitern" entwickelt, die zwar gebraucht, nicht aber unbedingt gewollt wurden. Diese Skepsis und Ablehnungshaltung spüren auch die hier geborenen und aufgewachsen Türkeistämmigen. Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, von der sie wenig Anerkennung und Zugehörigkeit erfahren. Gerade Erdoğan versteht es gut, der Diaspora eine "stolze Identität" zu geben. Nach dem Motto: "Egal wo ihr, wie lange schon lebt und vom Heimatland getrennt seid. Vergesst nicht, dass wir für euch da sind und stolz auf euch seid."

Menschen brauchen positive Anerkennung, um sozial gesund zu leben. Die immer starke Ausgrenzung in Österreich macht die Türkeistämmigen anfälliger für die Umarmungen und Avancen aus der Türkei. Überspitzt lautet die vorherrschende Haltung: "Integriert euch bis zur Unkenntlichkeit, aber ihr gehört dennoch nicht dazu." Wir machen es Erdoğan sehr einfach und beklagen uns darüber. Respekt, Anerkennung und auch Freundlichkeit bedeuten nicht beschwichtigende Schönrednerei, sondern bilden die Grundlage für eine ehrliche, konstruktive Kritik und Debatten, die wir auch führen müssen. Dazu sind auch die türkeistämmigen Communitys aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten.

Die vorhandenen Missstände sind nicht einfach, eindimensional und erst recht kein Schicksal. Statt einer populistischen Empörungsbewirtschaftung brauchen wir eine ehrlich gemeinte, zukunftsfähige Politik auf Grundlage des Respekts und eines inklusiven Wir, in der alle Probleme offen angesprochen und lösungsorientiert angegangen werden. Es gibt viel Luft nach oben, wir stecken nicht im Stau, wir sind der Stau. (Kenan Dogan Güngör, 29.8.2023)