Ein wenig Protest hat noch keinem Festival geschadet. Zumal wenn er, wie am Eröffnungstag der Filmfestspiele von Venedig, auf Leiberln zum Ausdruck gebracht wird. Juryvorsitzender Damien Chazelle und seine Jurymitglieder Laura Poitras und Martin McDonagh zeigten sich mit "Writers Guild on Strike"-Slogans solidarisch mit dem doppelten Arbeitskampf der Autoren und Schauspielenden in den USA.
Kunst ist nicht Content
Damit spricht Chazelle an, was viele am Lido von Venedig spüren: "Viele Leute, die normalerweise hier wären, können nicht hier sein", sagt der Juryvorsitzende in Bezug auf die US-Stars, die die Festivalwerbeauftritte für die Studiofilme boykottieren. Der 38-jährige Regisseur, zuletzt mit "Babylon" auf den Spuren des Hollywoodstudiosystems, erklärt seine Solidarität mit den weniger Berühmten:
"Ich denke, es gibt einen Grundgedanken, dass jedes Kunstwerk einen Wert an sich hat und nicht nur ein Stück Inhalt ist, das in eine Pipeline gesteckt wird. Dieser Grundgedanke ist in den letzten Jahren ausgehöhlt worden. Das ist für mich das Kernproblem. Die Frage der Vergütung und der Entlohnung für jedes einzelne Kunstwerk ist entscheidend."
Italienischer Eröffnungsfilm
Über die freigewordene Aufmerksamkeit bei den internationalen Filmfestspielen freut sich der italienische Film. Just zur 80. Festivalausgabe wittert das Branchenmagazin "CIAK" mit den sechs heimischen Beiträgen eine "einmalige Chance". Und die bietet sich gleich mit dem Eröffnungsfilm von Edoardo De Angelis. Für dessen Titelhelden spielt es keine Rolle, dass das Drama nur die zweite Wahl ist. Der "Comandante" ist zur Stelle, wenn man ihn braucht. Auch wenn er nur als Ersatzfilm für den streikbedingt zurückgezogenen "Challengers" des Landsmanns Luca Guadagnino nachnominiert wurde.
Die schlechteste Wahl ist es nicht. Auf den ersten Blick mutet es seltsam an, das älteste Filmfestival der Welt, dessen Wurzeln im Faschismus liegen, in Zeiten wie diesen mit einem Kriegsfilm zu eröffnen. Noch dazu wenn es um einen U-Boot-Kapitän in Mussolinis faschistischer Marine im Jahr 1940 geht. "Comandante" trägt indes eine durchaus humanistische Botschaft in sich. Es geht um Seenotrettung entgegen der Befehle von oben und den moralischen Imperativ im Angesicht der Gefahr.
Die Botschaft wirkt also auch im Heute, das macht Edoardo De Angelis mit dem Zitat eines russischen Seemanns aus dem Jahr 2023 deutlich, der von Ukrainern gerettet wurde. Dem Historienfilm als Motto vorangestellt, erweitert es den Interpretationsspielraum für die wahre Geschichte zusätzlich. Die Parallelen zur unterlassenen Hilfeleistung gegenüber Flüchtenden im Mittelmeer sind in dieser Hochseegeschichte sowieso unübersehbar.
Gnocchi, Fritten und Matteo Salvini
Italo-Star Pierfrancesco Favino – auch noch in einem weiteren Wettbewerbsfilm zu sehen – spielt hier den Seesoldaten Salvatore Todaro, einen Draufgänger, der auch mit beschädigter Wirbelsäule nach einem Unfall wieder aufs Meer hinausfährt. Seine Frau versucht ihn erfolglos davon abzuhalten.
Doch "Comandante" ist ein Männerfilm, bei dem die Frauen an Land zurückbleiben. Eine von ihnen, eine Hafenprostituierte, steuert noch ein hellsichtiges Voiceover über die verschwendeten jungen Leben bei, bevor das U-Boot Cappellini das italienische Festland hinter sich lässt.
Die Moral kommt ins Spiel, als die Mannschaft ihrem Auftrag gemäß ein belgisches Schiff versenkt, der Kapitän dann aber die schiffbrüchige Mannschaft mit viel Risiko rettet. Es gebe zwei Arten von Heroismus, erklärt der unzeitgemäße Held irgendwann im Film, den barbarischen des Krieges und einen anderen.
Auch wenn Regisseur De Angelis die soldatische Härte und das Gemeinschaftsgefühl unter Wasser immer wieder auch glorifiziert, verknüpft er sie am Ende doch mit der Menschlichkeit. Ob dieser Gegenwartsbezug vom bei der Festivaleröffnung anwesenden rechtspopulistischen Minister Matteo Salvini verstanden wurde?
Den Patriotismus der italienischen Seemänner definiert der Film jedenfalls wunderbar harmlos über das Kulinarische: Die Gnocchi bedeuten Identität, auch wenn der Schiffskoch dann von den geretteten Belgiern auch noch lernt, Fritten zuzubereiten.
Ehrenlöwe für Liliana Cavani
Das Filmland Italien ist am Eröffnungstag gleich noch mit einem weiteren Star vertreten. Regisseurin Liliana Cavani bekommt den diesjährigen Goldenen Ehrenlöwen für ihr Lebenswerk. Ihre Hauptdarstellerin aus dem Skandalfilm "Der Nachtportier", Charlotte Rampling, hielt die Laudatio und erinnerte sich an das "harte Genie ihrer Regiearbeit": "Cavani hat uns gezwungen, uns dem Schönen, dem Hässliche und dem Unaufgearbeiteten zu stellen."
Neuer Film "L'ordine del tempo"
Die Preisträgerin selbst erinnerte sich in ihrer Dankesrede an die tiefe Erfahrung beim Dreh ihres berüchtigten Films für sie und ihr Schauspielduo. Sie sei eine der wenigen Regisseurinnen, die diesen Preis in der langen Geschichte des Festivals bekommen habe: "Autorinnen und Regisseurinnen arbeiten genauso hart wie die Männer. Es ist nicht gerecht, wenn wir ihnen nicht die Chance geben, gesehen zu werden."
90 Jahre jung signierte Cavani zuvor auf dem roten Teppich Autogramme wesentlich jüngerer Fans und brachte gleich noch ihren ersten neuen Film seit über 20 Jahren mit zum Festival. "L'ordine del tempo" läuft außer Konkurrenz. Es ist ein recht konventionelles Kammerspieldrama, bei dem ein drohender Asteroidenabsturz eine Gruppe von Mittfünfzigern aus der Ruhe bringt und sie über ihre Freiheit in der Liebe nachdenken lässt. Kein Meisterwerk, aber doch ein sympathischer Abschiedsfilm einer mutigen Filmemacherin.
Die kommenden zehn Tage bis zur Verleihung der Löwen halten noch 22 Wettbewerbsfilme bereit. Und vielleicht darf heuer sogar ein italienischer Beitrag den Goldenen Löwen mit nach Hause nehmen. (Marian Wilhelm aus Venedig, 31.8.2023)