Es ist ein Abend wie viele andere – und doch ist etwas anders. Im Spätherbst 2016 geht Dirk Gratzel wie so oft in den Wald auf die Jagd. Immer mit dabei: sein Hund Emil. Stundenlang sitzt er da und beobachtet die Natur. Er genießt die Ruhe des Waldes, gleichzeitig kreisen die Gedanken in seinem Kopf: Wie wird die Welt sein, wenn meine Kinder so alt sind wie ich? In welchem Zustand wird die Erde dann sein? "Das war etwas, was mich immer wieder nachdenklich gemacht hat und sehr kritisch auf meinen eigenen Lebensstil hat schauen lassen", erzählt Gratzel heute. Es ist der Abend, an dem er beschließt, sein Leben von Grund auf zu ändern.

Gratzel ist damals 48 Jahre alt und Chef eines Technologieunternehmens. Er fliegt mehrmals in der Woche von Köln nach Berlin oder rast mit seinem Porsche über die Autobahn. Er kauft sich gerne neue Kleidung und wohnt in einem großen Haus in Stolberg bei Aachen, nahe der Grenze zu Belgien. Doch ihn plagt zunehmend das schlechte Gewissen, immer öfter fragt er sich selbst: "Was tue ich hier eigentlich? Das hat mich irgendwann dazu gebracht zu sagen: 'Okay, so kannst du nicht weitermachen, du musst etwas ändern.'"

Dirk Gratzel mit seinem Hund Emil im Wald
Gemeinsam mit seinem Hund Emil geht Dirk Gratzel oft in den Wald. Hier findet er Zeit zum Nachdenken.
Martin Meissner / AP / picturedesk.com

Die Bilanz eines Lebens

Gratzel beschließt, ein Experiment zu starten: Er möchte als erster Mensch seine Ökobilanz wissenschaftlich berechnen lassen. Zwar gibt es auch im Internet sogenannte "Fußabdruck-Rechner", diese liefern allerdings nur einen groben Überblick über die eigenen Emissionen. Gratzel aber möchte es genau wissen: Er schreibt Umweltorganisationen und Wissenschafter an, zunächst ohne Erfolg. Dann jedoch stößt er mit seiner Idee bei der Technischen Universität Berlin auf offene Ohren. Gemeinsam mit Professor Matthias Finkbeiner und seinem Team startet er das Projekt "Green Zero". Das Ziel: Eine ausgeglichene Ökobilanz – die grüne Null.

"Das schlechte Gewissen hat mich irgendwann dazu gebracht zu sagen: 'Okay, so kannst du nicht weitermachen, du musst etwas ändern.'"

Die Wissenschafter wollten zunächst wissen, wie sein bisheriges Leben ausgesehen hat. Dafür musste Gratzel ein halbes Jahr lang jeden Schritt in seinem Leben dokumentieren – und das bis ins kleinste Detail. "Wenn ich eine Tasse Kaffee getrunken habe, habe ich aufgeschrieben: soundso viel Gramm Kaffeepulver, soundso viel Wasser, ein Stück Zucker. Und ich musste nicht nur aufschreiben, dass es ein Stück Zucker ist, sondern auch: Was ist das für ein Zucker? Ist er aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben? Wo ist er hergestellt worden? Wie ist er verpackt?" Auch seinen gesamten materiellen Besitz hat er in eine Excel-Liste eintragen – am Ende kamen rund 16.000 Dinge zusammen. "Ich habe jede Kuchengabel, jeden Socken, jeden Radiergummi, jedes Bild an der Wand, jeden Stuhl, jedes Reinigungsmittel, jede Zahncreme dokumentiert", erzählt Gratzel.

Anhand dieser Daten konnten die Wissenschafter berechnen, für wie viele Emissionen Gratzel bis zu diesem Zeitpunkt verantwortlich war. Die Ergebnisse haben sie dem Unternehmer auf rund 100 Seiten präsentiert – und die bisherige Bilanz war verheerend. Knapp 1.150 Tonnen an Treibhausgasen hat Gratzel in seinem ganzen Leben bereits verursacht. Das ist in etwa zwei- bis dreimal so viel wie der deutsche Durchschnittsbürger. Hinzu kamen fünf Tonnen Schwefeldioxid, das für die Versauerung von Böden und Gewässern sorgt. Den größten Brocken seiner Emissionen machte die Mobilität aus: Von den 27 Tonnen CO2 jährlich gingen mehr als 18 auf das Konto seiner Autofahrten und Flüge.

Dicke Rauchwolken strömen aus Industriekaminen in die Luft
Nicht nur die Industrie, sondern jede einzelne Person verursacht Emissionen. In Gratzels Fall waren es 1.150 Tonnen – und damit mehr als doppelt so viele wie der Durchschnitt.
IMAGO/Wienold

Radikale Wende

Ab diesem Zeitpunkt krempelt Gratzel sein Leben radikal um. Etwa 50 bis 55 Maßnahmen setzt er in die Tat um, um seine Ökobilanz zu verkleinern. Statt dem Flugzeug nimmt er fortan Bus oder Bahn, den Porsche tauscht er gegen ein E-Auto ein, kurze Weg radelt er mit dem E-Bike. Er duscht nur 45 Sekunden und ernährt sich vorwiegend vegan. Nur das Fleisch, das er auf der Jagd selbst erlegt, kommt bei ihm auf den Teller. Außerdem hat er auch sein Haus mit großem Aufwand umgebaut und das Heizungssystem ebenso wie alte Türen und Fenster ausgetauscht. Am Ende hat Gratzel das Haus doch verkauft, zu viel Fläche hat es beansprucht.

Trotz alldem sieht der 55-Jährige die Veränderungen in seinem Leben als Bereicherung: "Ich sehe die Welt, die mich umgibt, in einer anderen Qualität, als wenn sie durchs Autofenster schnell vorbeihuscht. Es ist vielleicht manchmal unbequemer, als sich einfach nur ins Auto zu setzen, keine Frage. Aber trotzdem erlebe ich es als Gewinn für mein Leben und nicht als Verlust." So leicht ihm der Umstieg auf alternative Verkehrsmittel gefallen ist, so schwer fällt ihm der Verzicht auf sein Lieblingsgetränk: Kaffee. "Ich komme ohne Kaffee einfach nicht durch", meint Gratzel lachend.

Kaffeebohnen werden aus einem Behälter geschöpft
Der Konsum von Kaffee wirkt sich negativ auf die eigene Ökobilanz aus. Davon trennen kann sich Gratzel (noch) nicht.
imago images/Andre Lenthe

Auch seine Familie – allen voran seine fünf Kinder, die mittlerweile zwischen 25 und Anfang 30 sind – begrüßen den Sinneswandel ihres Vaters. "Meine Kinder waren schon immer viel schlauer als ich und mir in Sachen Nachhaltigkeit weit voraus. Ich glaube, sie haben sich gefreut, dass ich jetzt auch nachhaltiger bin."

Boden gut machen

Durch seinen neuen Lebensstil ist Gratzels CO2-Bilanz von 27 auf sieben Tonnen pro Jahr geschrumpft. Innerhalb kürzester Zeit konnte er seinen Fußabdruck somit um zwei Drittel verringern. Damit liegt der 55-Jährige aber immer noch weit über dem Wert von 1,5 bis zwei Tonnen, den der Weltklimarat als verträglich für den Planeten ansieht. Dass er dieses Ziel erreichen wird, sieht selbst Gratzel skeptisch: "Vielleicht schaffe ich es noch auf fünf oder sechs Tonnen CO2. Aber ich werde nie mit meinem Leben auf Null kommen. Menschliches Leben ohne Umweltwirkung ist nicht denkbar." Und auch Umweltwissenschafter Matthias Finkbeiner, der das Projekt begleitet, sieht das Zwei-Tonnen-Ziel in der westlichen Welt außer Reichweite: "Es stellt sich die Frage, ob es sich nur umsetzen lässt, wenn wir nackt und in Zelten leben."

"Ich erlebe die Veränderungen in meinem Leben als Gewinn, nicht als Verlust."

Und so bleibt die Erkenntnis: Allein durch die Veränderung des Lebensstils ist die grüne Null nicht zu erreichen. Im zweiten Schritt hat Gratzel deshalb ein stillgelegtes Steinkohlebergwerk aufgekauft und begonnen, zwölf Hektar Fläche zu renaturieren und zerstörte Ökosysteme wiederherzustellen. In 15 Jahren, schätzt er, werde die Natur dort so weit in ihren ursprünglichen Zustand versetzt sein, dass die Umweltkosten seiner Existenz durch den neuen Umweltwert ausgeglichen sind. "Und wenn das passiert ist, dann ist meine Ökobilanz ausgeglichen, dann hätte ich eine grüne Null."

Renaturiertes Gebiet in Belgien
Durch die Renaturierung von Flächen möchte Gratzel jene Umweltschäden wiedergutmachen, die er mit seinem Lebensstil nicht ausgleichen kann.
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Es gibt aber auch kritische Stimmen. Umweltforscherin Marianne Darbi äußert in der "Taz" ihre Zweifel daran, die Kompensation mit einer ökologischen Nullbilanz gleichzusetzen. Hier lehne man sich "etwas weit aus dem Fenster", denn Renaturierung bleibe immer nur eine Annäherung an eine vollständige Wiedergutmachung. Auch Michael Billharz vom Deutschen Umweltbundesamt kritisiert das Projekt in einem Artikel der "Zeit" als "ineffizient", es könne "nicht jeder sein eigenes Kompensationsprojekt durchführen". Es wäre sinnvoller gewesen, das Geld an bereits bestehende Umweltschutzprojekte zu spenden. Nichtsdestotrotz sei der Grundgedanke sehr begrüßenswert: "Kompensation ist eine Riesenchance, um Klimaschutz zu beschleunigen."

Anreize statt Verbote

Gratzel selbst arbeitet mittlerweile als Berater für Unternehmen, Kommunen und Privatpersonen. Er möchte sie dabei unterstützen, ihre Umweltwirkungen zu reduzieren und die verbleibenden Umweltkosten zu kompensieren. In seinem Buch "Projekt Green Zero" hat er seinen Selbstversuch niedergeschrieben, ebenso tritt er als Redner auf. Wichtig ist ihm dabei die Kommunikation auf Augenhöhe – mit dem erhobenen Zeigefinger andere zu belehren, davon hält er nichts. "Ich käme nie auf die Idee, irgendeinem vorschreiben zu wollen, wie er sein Leben lebt. Ich glaube, wir haben alle das Bewusstsein und das Wissen, dass wir eine andere Art brauchen, wie wir mit dem Planeten umgehen – und dafür müssen wir Dinge verändern. Aber wir sollten diese Veränderung nicht so betreiben, dass wir den Leuten sagen: Du darfst kein Fleisch mehr essen. Sondern wir müssen Anreize und positive Erlebnisse schaffen."

Dirk Gratzel mit einem Buch in der Hand
Seinen Selbstversuch hat Gratzel in einem Buch festgehalten. Er möchte seine Erfahrungen mit den Menschen teilen.
imago images/Hartenfelser

Gleichzeitig fordert Gratzel auch von der Politik mehr Mut ein. Wenn nur ein Bruchteil des Geldes, das in andere Bereiche investiert wird, in die ökologische Aufwertung von Flächen fließt, könnte die Welt schon bald ganz anders aussehen, ist er der Meinung: "Wir würden in einem Garten Eden leben. Es wäre ein Paradies. Alles wäre grün. Und ich finde, so eine Idee, so eine Vision ist es wert, dass man darüber nachdenkt und daran arbeitet. Wie können wir das umsetzen? Denn ich würde mir schon wünschen, dass meine Kinder irgendwann in einer Welt leben, die besser ist als die Welt heute." (Theresa Scharmer, 4.9.2023)