Als ich ihn besuche, verschickt Manfred Reichel gerade ein Paket mit einer Puppe nach Italien, "nichts Besonderes, Kaufpreis vielleicht 130 Euro", sagt er. Corona hat nämlich auch ihn gezwungen, sich noch einmal neu aufzustellen und die Vertriebswege über das Internet zu nutzen, "sonst hätte ich zusperren müssen". Bis dahin hatte er sich gedacht: "Wenn ihr was wollts, dann kommts zu mir, ich bin zu alt für was Neues!"

Vor 27 Jahren war er sehr wohl bereit für einen Neuanfang. Da geriet das Einrichtungshaus Michelfeit, wo er in Wr. Neustadt als Dekorateur arbeitete, ins Schlingern, und mit der erhaltenen Abfertigung konnte er endlich das Hobby zum Beruf machen: Puppen­an- und -verkauf sowie Reparatur von Puppen und Teddys. In der Heumühlgasse im vierten Wiener Bezirk fand er 1996 das schöne Geschäft, in dem früher ein Herrenschneidermeister einquartiert war, "der hier fantastische Anzüge gemacht und von Vranitzky bis Scholten alle eingekleidet hat". Nach dem Tod seiner Frau hat er noch beinahe zehn Jahre lang mit Reichel hier gearbeitet, "seine Maschinen konnte er ja nicht mit nach Hause nehmen, also hat er hinten im Geschäft gebügelt und Zuschnitte gemacht. Er hat mir noch viel beigebracht."

Puppenklinik Manfred Reichel, Barbie Puppen,
In der Puppenklinik wird repariert ­und an Sammler verkauft.

Die ersten Puppen

Für das Nähen interessierte sich Reichel freilich schon viel früher, als er der Mutter und der Tante beim Herstellen kleiner Zierpölsterchen auf die Finger schaute. "Und Abbildungen von Menschen, ihren Handerln und Fußerln sowie von Statuen und Büsten haben mich früh fasziniert." Die Aufnahme an der Graphischen schaffte er als 16-Jähriger zwar nicht, aber ungefähr zu dieser Zeit sah er bei einer Freundin auf dem elterlichen Dachboden eine Gliederpuppe von Anfang der 1900er-Jahre, die Paula hieß und auf einem Stuhl in der Ecke saß. Zwar fehlte ihr eine Hand – "obwohl die Puppen damals was aushielten, weil man ja meist nur das eine Stück davon hatte" –, aber die Beweglichkeit der restlichen Puppenglieder faszinierte ihn. Zwei Jahre später kaufte er sich um 5000 Schilling hart verdientes Ferienjobgeld seine erste eigene Gliederpuppe, wovon die Mutter nicht so begeistert war: "Um Gottes willen! Was haust denn dein Geld für dieses Zeug raus?" Sie hatte eine Trafik in Baden, und der Vater war Werbefotograf, der ihn als Fotokaufmann in seinem Geschäft sehen wollte.

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Das Grauen heißt "Baby born"

Reichel nahm zunächst den Umweg über eine Lehre beim Einrichtungsfachhandel Michelfeit – doch die Puppen ließen ihn nicht mehr los. Stilkunde und Geschichte hat er sich später selbst angeeignet. Am interessantesten blieben für ihn die Gliederpuppen mit Porzellankopf von 1870 bis 1910. Damenpuppen aus Leder aus der Zeit von 1860 bis 1870, die als "Barbie-Puppen des 19. Jahrhunderts" gelten, mag er auch. Deutsche Zelluloidpuppen der Firma Schildkröt aus den 1940er- und 1950er-Jahren, die Hans, Ursel oder Inge hießen und heute als "Nazipuppen" bezeichnet werden, haben ihn hingegen nie interessiert. Und vor den "Baby born"-Spielpuppen, die letzter Schrei waren, als er sein Geschäft eröffnete, graute ihm.

"Aber was heißt das schon?", fragt er. "Ich habe trotzdem eher die schiachen Puppen gesammelt, weil die mich mehr interessieren." Und überhaupt seien Puppen immer ein Spiegel ihrer Zeit: "Wenn man sich Fotos von Menschen um 1900 anschaut, dann sieht man darauf halt nur freudlose Frauen mit kleinen Mündern, langen schwarzen Röcken und einem Strohhut." So sahen dann auch die Gliederpuppen aus, die damals noch für reife Teenager aus besserem Haus gedacht waren, die an ihnen das Nähen lernen und mit ihnen zur guten Hausfrau und Mutter heranwachsen sollten. Erst ab 1910 gab es "Babypuppen" mit lieblichen Gesichtern, und ab 1920 sah man erstmals Puppenbabys mit gut genährten Bäckchen, weil sich in ihnen die Sehnsucht der vom Krieg geplagten Bevölkerung nach Frieden und Wohlstand spiegelte. Weiteres Beispiel: "In den 1950er-Jahren galt Liz Taylor mit ihren schwarzen Haaren und blauen Augen als schönste Frau der Welt, folglich haben die meisten Puppen aus dieser Zeit schwarze Haare, einen knallroten Mund und blitzblaue Augen."

Die Hippie-Barbie

Wie sehr sich das Schönheitsideal "weiße Frau" auf der ganzen Welt durchgesetzt hat, merkte er vor zehn Jahren während eines Urlaubs auf den Seychellen, als er einem Kindergarten, der kein Spielzeug hatte, Puppen aus seinem Geschäft zukommen lassen wollte. "Aber bitte nur blonde und blauäugige!", bat man ihn. "Und da war ich baff." Schildkröt produzierte zwar ab 1927 auch schwarze Babypuppen, die jedoch "Samoa-Baby" oder "Südseeschönheit" hießen und deren Physiognomie nichts "Afrikanisches" zeigte. Abgebildet, sagt er, werde immer das biedere Umfeld, nie die Avantgarde. Und selbst die Hippie-Barbie der 1970er-Jahre war tadellos gekleidet und frisiert. Barbies zu sammeln, sagt er, sei wie Modehefte anschauen. "Wenn du die Burda von 1973 aufschlägst, dann siehst du darin Kleider, wie sie die Barbie damals trug."

Er selbst ist "Alt-Barbie-Sammler", die meisten anderen würden Barbies erst ab den 1990er-Jahren kennen und seien dann verwundert, wie die älteren aussahen. Zum Fünfziger hat er sich noch einmal die N. 1 aus dem Jahr 1959 (von der nur 200.000 Stück gemacht wurden) originalverpackt mit Originalständer, Originalbadeanzug und Originalsonnenbrille gegönnt, zu einem Liebhaberpreis, der durch den aktuellen Filmhype gestiegen sein dürfte.

Teure Sammlerstücke

In den 1980er-Jahren gab es einen Sammlerboom, erzählt Reichel. "Die Nachkriegs­generation hatte kein Spielzeug, also holten viele Sammler ihre Kindheitsträume nach." Gesammelt werde heute meist anonym, aber als Dorotheum-Auktionator für Altes Spielzeug, wo auch mal für sechsstellige Summen eingekauft wird, kennt er die meisten relevanten Sammlungen. Manche, die beim Trödler Lehrgeld zahlen mussten, hätten sich wie er zu wahren Experten entwickelt und zählten heute zu seinen besten Kunden. Literatur sei das Wichtigste, aus einer Verlassenschaft kaufte er daher kürzlich eine ganze Kiste einschlägiger Bücher, aber auch einmal 200 Barbies für 6000 Euro, die alle schön verpackt bei ihm im Schrank liegen. Ausgestellt hat er die wenigsten.

Puppenklinik Manfred Reichel, Barbie Puppen,
Seit seiner Jugend ist Manfred Reichel vom Puppenmachen fasziniert.

"In der Pension werde ich weitermachen", sagt er. "Ich brauche den Kontakt mit den Leuten. Ich höre mir immer gerne Geschichten an." Geschichten, wie sie auch die alten Puppen in seinem Geschäft erzählen. (Manfred Rebhandl, 3.9.2023)