Akademietheater Burgtheater Castorf Gender
Dörte Lyssewski (li., mit Nina Siewert) in ihrer neuen Rolle als untröstlich liebende Petra von Kant – nach Fassbinder.
(c) Matthias Horn

Mit Blick auf die heutige Premiere von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant (19.30 Uhr) berichtet Burgschauspielerin Dörte Lyssewski von herausfordernden Probearbeiten. Lyssewski, seit 2009 Ensemblemitglied der Burg, plädiert für das Primat des Handwerks – und wird auch in der kommenden Burg-Ära Bachmann wichtige Traglasten schultern.

STANDARD: Die bitteren Tränen der Petra von Kant ist Rainer Werner Fassbinders artifiziellster Film und handelt von wechselnden Machtverhältnissen in Sachen Liebe.

Lyssewski: Artifiziell ist der Blick, den unsere Regisseurin Lilja Rupprecht auf das Stück wirft. Der Raum ist kalt und künstlich, in ihm prallen die unterschiedlichen Auffassungen, was das Leben sei, hart aufeinander.

STANDARD: An welchem Punkt Ihrer Burgtheater-Reise stehen Sie?

Lyssewski: Stets an dem, den mir die Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen einräumen. Heute weiß ich zudem, ich kann am Burgtheater bleiben. Das eröffnet einen neuen Horizont. Ich stand zuletzt unter Anspannung, weil ich nicht selbstverständlich davon ausging, hierzubleiben. Ich habe gebangt, wie alle anderen auch. Dieser Elch ist gottlob an mir vorübergegangen (lacht). Ich kann den Blick jetzt in die Zukunft richten. Das macht auch das Hier und Jetzt visionsfähig.

STANDARD: Kein Wunsch nach einem Blickwechsel?

Lyssewski: Durch die vielen Intendantenwechsel hatte ich ohnehin nie das Gefühl, ich sei hier festgewachsen.

Interview Burgtheater Lyssewski
Dörte Lyssewski: "Man darf nicht den Glauben an die Einfachheit à la Peter Brook verlieren."
Irina Gavrich

STANDARD: Der designierte Direktor scheint um Verbindlichkeit bemüht.

Lyssewski: Stefan Bachmann kennt das Haus sehr gut. Er weiß um die Bedeutung, die die Burg für das Publikum besitzt, für alle Menschen, die hier arbeiten. Leute "nicht zu verlängern", wie es heute heißt, ist immer knallhart. Es bedroht Existenzen und Lebensentwürfe.

STANDARD: Die Gelehrten sind uneins in der Frage, ob der Kulturhunger nach der Pandemiepause wächst oder ob viele Zuschauer für das Theater verloren sind.

Lyssewski: Diejenigen, die stets aufs Neue entscheiden, ob sie ihre Zeit am Abend mit Kultur verbringen wollen, tun das sehr viel bewusster als vor der Pandemie. Stellt der Mensch hingegen fest, es geht auch ohne ein solches Angebot, gewöhnt er sich rasch daran. Menschen neigen zur Bequemlichkeit. Ich bin nicht gegen Netflix, dagegen zu schimpfen ist zu billig. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, welche Volten des Erzählens dort geschlagen werden. Auf dem Theater geht uns mitunter das Narrativ verloren.

STANDARD: Das meint?

Lyssewski: Wir haben nicht die Kamera, sondern wir vermitteln das Live-Erlebnis. Wir müssen achtsam sein. Wenn uns nicht die Wucht der Gegenwärtigkeit erhalten bleibt, die Einzigartigkeit dessen, was zwischen Menschen im Beisein des Publikums vor sich geht, setzen wir unsere Existenz aufs Spiel. Oper und Konzert haben sich rascher rehabilitiert als wir. Wir müssen auf der Bühne bar bezahlen, wir haben nicht die Musik, sondern nur uns selbst, die Beteiligten, die Handlung. Der Zuschauer besitzt ein Anrecht auf das Ereignis. Wenn wir dieses über Bord werfen, weil wir meinen, anderen Künsten hinterherhecheln zu müssen, werden wir scheitern. Wir müssen die Leichtfertigkeit im Umgang mit den Elementarkräften ablegen; diesen Irrglauben, es ginge "um etwas anderes".

STANDARD: Muss das Theater mehr verführen oder mehr Verantwortung tragen?

Lyssewski: Man darf nicht den Glauben an die Einfachheit, an die "empty spaces" à la Peter Brook verlieren. Von mir aus kann eine Theateraufführung auch einmal bombastisch daherkommen. Ich halte nur nichts von Zertrümmerung.

STANDARD: Wobei die Bezeichnung des Stückezertrümmerers häufig den Falschen angeheftet wird, man denke an Frank Castorf.

Lyssewski: Das Thema sind die Epigonen. Castorf ist ein Theatermann von der Basis her, der Schauspieler begreift und dechiffriert wie kein Zweiter. Dazu kommt sein Umgang mit Sprache, sein Raumgefühl, das Gespür für Timing. Einmal habe ich zu ihm gesagt: "Weißt du, dass du eigentlich viel mit Peter Stein gemeinsam hast?" Er ging sofort an die Decke: "Was? Stein würde sich bedanken!"

STANDARD: Ist das Theater nicht Ware geworden? Je nonkonformistischer du dich verhältst, desto bereitwilliger schließt man dich in die Arme!

Lyssewski: Matthias Hartmann hat etwas vermeintlich Ketzerisches im Spiegel geschrieben. Es gebe eine Gruppe von Regisseuren, die bereits für die Kritik inszenieren – und dabei das Publikum aus dem Auge verlieren. Jeder will in eine bestimmte Liga aufsteigen und dort seine Duftmarke setzen. Die wird dann durchdekliniert bis zum Gehtnichtmehr.

STANDARD: Ziel ist das Ranking?

Lyssewski: Zeit und Geduld gehen verloren. Wir arbeiten wochenlang in einer Art Terrarium, einem geschützten Setting, an einer Sache: ihrer Durchdringung. Da möchte man als Schauspielerin nicht die Steigleiter für einen Regisseur abgeben, damit der heute da, morgen dort arbeitet. Das kommt nicht gut an bei uns Schauspielern!

STANDARD: Apropos Gendersensibilität: Spürt man die Effekte eines veränderten Umgangs miteinander?

Lyssewski: Man bemerkt einerseits eine übergroße Wachheit: Es gibt Vorgänge auf dem Theater, die der Sache zugehören, dabei verschärft sich gegebenenfalls auch der Ton, und das ist nicht persönlich gemeint. Manchmal wird man auch zensiert, weil man dieses oder jenes nicht mehr sagen darf. Das geht mir wahnsinnig auf den Keks. Ich gendere auch nicht.

STANDARD: Warum nicht?

Lyssewski: Weil ich von Kindesbeinen an aus der Literatur komme und meine, es gibt größere Zusammenhänge als diesen einen. Zudem stellt sich die Frage, wem dadurch geholfen wird. Aber natürlich ist die Schärfung der Wahrnehmung heilsam. Es gibt jedoch Leute, die den Aspekt instrumentalisieren und so tun, als ob die eine Frage die einzig wichtige wäre. (Ronald Pohl, 5.9.2023)