Priscilla
Priscilla Presley (Cailee Spaeny) wechselt übergangslos vom Elternhaus nach Graceland unter die Obhut des Kings of Rock 'n' Roll.
Biennale

Wer sich am Montag in Venedig mit den neuen Filmen Woody Allens und Sofia Coppolas eine Feel-good-Zeit erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht. Für die meisten aber war das keine Überraschung. Bereits die Ankündigung, dass neben Luc Besson und Roman Polanski auch Woody Allen nach Venedig eingeladen worden war, hatte Kritik geerntet – handelt es sich doch bei allen dreien um Männer, denen Vergewaltigungen (Polanski und Besson) und sexuelle Übergriffe gegenüber Minderjährigen (Polanski und Allen) vorgeworfen wurden beziehungsweise werden.

Zu einem Prozess kam es bislang lediglich im Fall Roman Polanskis. 1977 wurde er in sechs Punkten angeklagt, die damals 13-jährige Samatha Greimer vergewaltigt zu haben. Er gestand teilweise, floh aber vor dem Gerichtsurteil aus den Vereinigten Staaten. Luc Besson wurde von der Schauspielerin Sand Van Roy Vergewaltigung vorgeworfen, es kam jedoch nach zwei Untersuchungen aus Mangel an Beweisen nicht zum Prozess. Zudem erhoben weitere Frauen Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Besson.

"Allen v. Farrow"

Die Vorwürfe gegen Woody Allen wurden 2021 durch die HBO-Investigativdokumentation "Allen v. Farrow", die erstmals seine Adoptivtochter Dylan Farrow zu Wort kommen ließ, neu eingeschätzt. Darin werden einerseits Untersuchungen zu dem Kindesmissbrauchsfall erneut aufgerollt, andererseits bekräftigt Dylan Farrow ihren Vorwurf, Allen habe sie 1992 als Siebenjährige sexuell belästigt. Das hatte denn auch den Effekt, dass Allen – dreißig Jahre nach dem mutmaßlichen Vorfall – in Hollywood endgültig zur Persona non grata wurde. Für sein möglicherweise allerletztes Filmprojekt wich er (wie Polanski bereits in den 1980ern) nach Frankreich aus.

Plattform und Protest

Wie Festivals mit Werken solcher Regisseure umgehen, hat offenbar kulturelle und generationsbedingte Ursachen. Die langjährigen Leiter europäischer Filmfestivals tendieren im Gegensatz zu ihren US-amerikanischen Pendants dazu, mit Vorwürfen konfrontierten Personen eine Plattform zu bieten. Mit dem Argument, dass man einen Film nur nach dessen Kunstfertigkeit, nicht nach der moralischen (oder juridischen) Unbeflecktheit des Machers beurteile, rechtfertigt auch der Festivalleiter von Venedig, Alberto Barbera, seine Entscheidung.

Flugblatt in Venedig
Ein Flugblatt in Venedig als Zeichen des Protests gegen Alberto Barberas Programm mit Filmen von Roman Polanski, Woody Allen und Luc Besson.
Flugblatt in Venedig_Valerie Dirk

Am Lido selbst, wo erst am Sonntag der spanische Schauspieler Gabriel Guevara wegen eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs festgenommen wurde, formiert sich indes stiller Protest. Etwa in Form von Flugblättern oder in der Aktion der griechischen Schauspielerin Ariane Labed, der Ehefrau Yorgos Lanthimos', die "keine weiteren Ehrungen für Täter" forderte. Ehrungen in Form von Preisen könnten nur Luc Besson zugutekommen, auch wenn das unwahrscheinlich ist: Sein Film "DogMan" ist im Wettbewerb.

Woody Allens Spielzeugeisenbahn

Woody Allens außer Konkurrenz laufender 50. Film "Coup de Chance" zählt zur Gattung seines altbekannten Mischmaschs aus Krimikomödie und redegewandtem Liebesdrama. Der Sound ist jazzig, die Bilder sind goldumtüncht, die Gesellschaft ist wohlhabend, die Darsteller treffen den Ton. Der kleine Film will nicht mehr sein als unterhaltsame Boulevardkomödie, und doch lassen sich Gedanken an obengenannte Vorwürfe nicht verscheuchen.

Ein scheinbar perfekter Ehemann (Melvil Poupaud) lässt seine scheinbar perfekte Gattin (Lou de Laâge), die er gern als "trophy wife" um sich hat, beschatten. Er verdächtigt sie einer Affäre – die sie auch hat: mit einem ehemaligen Klassenkameraden (Niels Schneider), dem sie eines Tages zufällig auf der Straße begegnet ist.

Sharmill Films

Der Ehemann ist ein zwielichtiger Kerl. Er verdient sein Geld damit, Reiche reicher zu machen, und besitzt ein Zimmer mit einer Spielzeugeisenbahn, die er gerne vorführt. Was harmlos wirkt, ist vor dem Hintergrund von Allens Vorgeschichte doch bemerkenswert. Denn am etwaigen (Nicht-)Vorhandensein einer Spielzeugeisenbahn wurde die Glaubwürdigkeit Dylan Farrows gemessen.

Diese hatte 2014 in ihrem ersten offenen Brief zur Causa geschrieben, während des Übergriffs auf dem Dachboden auf eine Spielzeugeisenbahn geblickt zu haben: "Ich erinnere mich, wie ich die Spielzeugeisenbahn anstarrte und mich auf sie konzentrierte, während sie auf dem Dachboden ihre Runden drehte. Bis zum heutigen Tag fällt es mir schwer, Spielzeugeisenbahnen anzuschauen."

Bruder Moses Farrow, der 2018 in einem offenen Brief Allens Seite einnahm und seinerseits schwere Vorwürfe gegen seine Adoptivmutter Mia Farrow erhob, behauptete dagegen, auf dem Dachboden habe es keine Eisenbahn gegeben. Kurzum: Die prominente Rolle der Spielzeugeisenbahn in Allens letztem Film mutet dann doch einigermaßen seltsam an.

Wahrheit und Zufall

Nachdem in "Coup de Chance" der Ehemann den Geliebten um die Ecke gebracht hat, kittet er die Beziehung zu seiner verzweifelten Frau. Doch deren Mutter (Valérie Lemercier) schöpft Verdacht und stellt Recherchen an. Schließlich kursieren über ihren Schwiegersohn Gerüchte, einen seiner Geschäftspartner ermordet zu haben, die sich als wahr herausstellen.

Woody Allen Coup de Chance
Woody Allen mit seinen Hauptdarstellerinnen Valérie Lemercier und Lou de Laâge.
AFP/GABRIEL BOUYS

Erfrischend ist, dass sich Allen gar nicht auf das so zeitgeistige Spiel der unterschiedlichen Perspektiven und Wahrheitsansprüche einlässt. Von Anfang an ist klar: Der Ehemann ist ein skrupelloser Schuft, der schwiegermütterliche Instinkt ist korrekt, und am Ende entscheidet das titelgebende Glück, wer zur Strecke gebracht wird.

Die Kindfrau: "Born sexy yesterday"

Ein weiteres Motiv, an dem man dieses Jahr in Venedig nicht vorbeikommt, ist jenes der anziehenden und naiven Kindfrau, das in den Filmen Allens, Polanskis und Bessons immer wieder prominent in Szene gesetzt wurde. Diese Obsession wird heuer in Venedig von zwei Filmen prominent aufs Korn genommen: einmal in "Poor Things" von Yorgos Lanthimos, der dem Motiv einen radikalen Twist gibt und große Chancen auf einen Preis hat. Und einmal von Sofia Coppola in "Priscilla".

"Priscilla" basiert auf Priscilla Beaulieu Presleys Memoiren "Elvis und Ich" und ist ein überaus harter Film. Presley war selbst an der Entstehung beteiligt und bescheinigt Regisseurin Coppola, "einen guten Job" gemacht zu haben. Dennoch sei es, wie sie auf der Pressekonferenz in Venedig unter zurückgehaltenen Tränen sagte, "nicht leicht gewesen, einen Film über mein Leben zu sehen". Denn das Leben, das man sieht, ist enttäuschend und wirft kein gutes Licht auf den King of Rock 'n' Roll. Elvis-Fans werden den Film nicht lieben, aber für die sei der Film auch nicht, meinte Coppola jüngst in einem Interview.

A24

"Priscilla" zeigt ein junges Mädchen (erstaunlich: Cailee Spaeny), so klein und zart, dass sie selbst in ihrer Schulklasse auf einer deutschen Militärstation fehl am Platz wirkt. Als sie eingeladen wird, Elvis zu treffen, wirkt das denn auch wie ein eigenartiges Angebot. Es ist das Jahr 1959, sie ist 14, er 24 und weltberühmt.

Nicht nur das, in der hochgewachsenen Gestalt Jacob Elordis wirkt Elvis neben ihr wie ein Riese. Immer wieder befindet sich die junge Priscilla allein unter weitaus älteren Menschen. Nie gehört sie richtig dazu, nirgends gelingt es ihr, Anschluss zu finden – außer in seltenen Momenten beim King.

Priscilla Presley
Das Team von "Priscilla" in Venedig: Jacob Elordi, Sofia Coppola, Cailee Spaeny und Priscilla Presley am roten Teppich. Elordi misst fast zwei Meter, Spaeny 1,57.
EPA/CLAUDIO ONORATI

Ein Püppchen für Graceland

Der genießt ihre Anwesenheit, ihr stilles Gemüt, ihr offenes Ohr. Ihre Beziehung ist fast keusch, zum wachsenden Unbehagen Priscillas, die, als sie später schon mit ihm lebt, ständig von seinen Affären in der Zeitung liest. Dennoch wirkt die Beziehung, das Heim, in das Elvis seine Teenagerbraut entführt, bedrohlich: Mit Priscilla hat er das perfekte Porzellanpüppchen für sein flauschiges Puppenhaus gefunden. Eine Assoziation, auf die Coppolas in Ausstattungsdetails und Texturen schwelgende Kamera dezidiert abzielt.

Die Puppenstube, die mit ihrem Plüsch jeden selbstbestimmten Gedanken erstickt, wird ergänzt durch die Pillen, die Elvis und Priscilla tagtäglich einnehmen. Ein kuscheliges Leben wie auf mit Chloroform getränkter rosa Watte. Die Langeweile, die Einsamkeit und das ewige Warten auf den Ehemann übertragen sich aufs Publikum. Das Unbehagen steigt von der Leinwand hinunter in den Saal.

Dolly Parton - I Will Always Love You (Audio)
DollyPartonVEVO

Erlösung kommt erst, als sich Priscilla 1973 vom King scheiden lässt und zu Dolly Partons "I Will Always Love You" eigene Wege geht. Eine dunkle Coming-of-Age-Geschichte, die Elvis als kontrollierenden Partner schildert, fast vollständig auf seine Songs verzichtet und die ungeschönte Perspektive Priscillas in Szene setzt. Man könnte sagen: ein Geraderücken.

Ob "Priscilla" Preischancen hat, wird sich am Samstag zeigen. Bis dahin hat das Festival noch einige vielversprechende, wenn auch weniger populäre Filme im Programm. (Valerie Dirk aus Venedig, 5.9.2023)