Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler.
Bundeskanzler Karl Nehammer (rechts) und Vizekanzler Werner Kogler sollen weiterhin ein gutes Verhältnis pflegen und eine stabile Gesprächsbasis haben. An anderen Stellen läuft es zwischen ÖVP und Grünen längst nicht mehr so rund.
APA/GEORG HOCHMUTH

Mit Gerüchten ist es oft so: Sie werden von Menschen, bei denen denkbar ist, dass sie die Wahrheit kennen, erzählt. Und von Menschen, die definitiv wissen müssten, ob das Gerücht stimmt, dementiert. Jenes Gerücht, dass diese Regierung nicht bis zum geplanten Wahltermin 2024 hält, sondern davor platzt, ist alt – und hat sich bis heute nie bewahrheitet. Bis vor kurzem wurden Neuwahlen innerhalb der Regierungsparteien jedoch recht bestimmt dementiert. Das hat sich geändert.

Auch in der ÖVP und bei den Grünen schwört kaum noch jemand darauf, dass die Regierung bis kommenden Herbst besteht. Derzeit werden Szenarien durchgespielt und Strategien entwickelt. Das kommende Jahr wird ein Superwahljahr – mit EU-Wahl und Nationalratswahl stehen zwei österreichweite Urnengänge an. Und der Ausgang der ersten Wahl kann die Dynamik des zweiten Wahlkampfs beeinflussen. Das wissen auch Spindoktoren und Parteistrateginnen.

In den Parteizentralen stehen aktuell zwei denkbare Szenarien im Fokus. Beide haben für verschiedene politische Player Vorteile und Nachteile – und dahinter stehen zahlreiche parteitaktische Überlegungen.

Szenario 1: Neuwahlen im März

Plangemäß würde im Herbst 2024 gewählt. Eine um ein halbes Jahr vorgezogene Nationalratswahl macht als Planspiel derzeit vor allem unter Türkisen die Runde. Und das mitsamt konkretem möglichem Ablauf, der mehrere strategische Überlegungen beinhaltet:

· Budget: Der Beschluss des Budgets im November wird vor allem innerhalb der ÖVP als neuralgischer Punkt beschrieben. Neuwahlen auszurufen, ohne vorher noch offene türkis-grüne Projekte fürs kommende Jahr in trockene Tücher gebracht zu haben, sei jedenfalls "unvernünftig". Ein Neuwahlbeschluss wäre nach dieser Rechnung im Dezember denkbar. Das würde – aufgrund rechtlicher Fristen – eine Nationalratswahl im März ermöglichen.

· Europawahl: Eine Wahl im März würde auch bedeuten, dass die Nationalratswahl noch vor der EU-Wahl stattfindet. In der Kanzlerpartei halten das einige für strategisch klug. Denn bei der EU-Wahl droht der ÖVP ein schlechtes Wahlergebnis, fürchten viele Türkise. Ein Grund dafür ist der Zwist mit Parteiurgestein Othmar Karas, dem letztmaligen EU-Spitzenkandidaten, dem nachgesagt wird, mit einer eigenen Liste zu liebäugeln. Hinzu kommt das Erstarken der Freiheitlichen in Umfragen, das sich bei der EU-Wahl manifestieren könnte. Ein schlechtes türkises Wahlergebnis, so die Sorge, würde eine ungünstige Dynamik für eine Nationalratswahl im Herbst auslösen.

· Die Schwäche der SPÖ: Abgesehen davon kommt die SPÖ unter ihrem neuen Chef Andreas Babler in Umfragen nicht recht vom Fleck – was aus Sicht der Volkspartei günstig ist. Von türkisen Strategen wird die Gefahr, die von Babler für die ÖVP ausgeht, zwar heruntergespielt. Dennoch: Durch eine vorgezogene Nationalratswahl nehme man Babler Zeit, um sich zu etablieren und zu festigen. Schlussendlich werde der Wahlkampf auf ein Duell hinauslaufen, sind sich die Strategen fast aller Parteien einig: FPÖ-Chef Herbert Kickl auf der einen Seite – bloß sein Gegenüber stehe noch nicht fest. Es könnte Karl Nehammer sein oder auch Babler.

· Kampf ums Kanzleramt: Auf "Platz zwei" In der ÖVP hat man zwar den Glauben an Platz eins bei der Wahl noch nicht ganz aufgegeben, doch bereits ein – auch aus eigener Sicht – realistischeres Szenario im Blick. "Für die Kanzlerfrage wird entscheidend sein, wer auf Platz zwei steht", meint ein Türkiser. Denn eigentlich würden alle Parteien die Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen – offiziell tut das auch die ÖVP. "Da Kickl nicht zur Seite tritt, ist der Zweite der, der die künftige Regierung anführt." So könne Nehammer möglicherweise Kanzler werden, ohne die Wahl zu gewinnen, lautet die Hoffnung in seiner Partei.

· Nehammers Schicksalswahl: Für Nehammer steht bei der kommenden Wahl viel auf dem Spiel. Würde er sogar die Kanzlerschaft behalten können, sei er als ÖVP-Obmann "natürlich gesetzt", sagt ein Parteifunktionär. Schafft er das nicht, "dann wird’s eng". Manche wollen beobachtet haben, dass das Verhältnis zwischen ihm und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler zuletzt abgekühlt ist. Edtstadler gilt als eine potenzielle Kandidatin für den Parteivorsitz, sollte Nehammer irgendwann weichen müssen.

Szenario 2: Durchtauchen bis Herbst

Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass ÖVP und Grüne tatsächlich bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2024 "durchregieren". Auch dafür gibt es Argumente:

· Mächtige Männer: Die Atmosphäre in der Koalition sei "nicht so mies", sagt ein Türkiser. Auch bei den Grünen wird betont, dass die Achsen zwischen Kanzler und Vizekanzler sowie zwischen den Klubobleuten bestens funktionieren – auch wenn es auf anderen Ebenen kracht. Mehrere mächtige Männer in der ÖVP sollen dazu tendieren, weiterzuarbeiten. Darunter: Kanzler Karl Nehammer. Im ORF-Sommergespräch am Montag hat er sich erneut zur amtierenden Bundesregierung bekannt. Anlass für Neuwahlen sieht er keinen.

· Der Postenfaktor: Für manche Grünen spricht vor allem eines gegen vorgezogene Nationalratswahlen: der Postenfaktor. Mit Wahlen im März würde die ÖVP riskieren, eine wichtige Stelle aus der Hand zu geben – den EU-Kommissar. Die EU-Kommission wird auf Vorschlag der 27 Regierungen der Europäischen Union beschickt. Auf jedes Land entfällt ein Kommissionsmitglied. Johannes Hahn (ÖVP) wird 2024 nach drei Amtszeiten aufhören. Mit dem Posten sollen Karoline Edtstadler wie auch Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) liebäugeln. Sollte die ÖVP nach der Nationalratswahl in der Opposition landen, hätte sie diese Postenbesetzung nicht mehr in ihrer Hand.

· Neuwahldeal: Wie DER STANDARD berichtet hat, sollen sich ÖVP und Grüne auf eine Art "Neuwahldeal" geeinigt haben: Wenn Neuwahlen ausgerufen werden, dann nur in koalitionärer Absprache. Durch die türkis-grüne Abmachung soll ein "freies Spiel der Kräfte" im Nationalrat verhindert werden – und eine Rückabwicklung türkis-grüner Projekte. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 6.9.2023)