Übergewichtiges Mädchen steht auf einem Fußballplatz im Tor und versucht einen Ball zu halten 
Sportlehrer und Sportlehrerinnen sollten mit übergewichtigen Kindern besonders rücksichtsvoll umgehen, findet der Experte – und auch einmal einen Einser im Zeugnis geben.
Getty Images / VlarVix

Das Problem ist längst bekannt, seit Jahrzehnten warnen Fachleute vor einem drastischen Anstieg der Zahl der Adipositas-Betroffenen. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind adipös. In Zahlen bedeutet das: Hierzulande ist etwa jeder vierte Bub übergewichtig, bei den Mädchen sind es rund 17 Prozent, also knapp jedes fünfte Mädchen – Tendenz weiter steigend. "Aber bisher ist in Sachen Adipositas keinerlei Gesundheitspolitik passiert", kritisiert Kurt Widhalm, Kinderarzt und Präsident des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin. Dabei wären Adipositas und vor allem Folgeerkrankungen wie Diabetes gut vermeidbar, wenn man Prävention endlich ernst nehmen würde.

STANDARD: Hierzulande gibt es nur wenige Daten, aber die internationalen Zahlen zeigen einen klaren Trend, der wohl auch für Österreich gilt: Immer mehr junge Schüler und Schülerinnen sind adipös. Woran liegt das?

Widhalm: Die Ursachen sind vielfältig. Bewegung spielt eine große Rolle, aber auch die Werbung und die Tatsache, dass energiereiche Lebensmittel in immer größeren Verpackungen zur Verfügung stehen. Ein Faktor ist auch, wie viel Zeit Kinder und Jugendliche vor Bildschirmen verbringen, inwieweit das Thema gesunde Ernährung in der Familie eine Rolle spielt und ob es in der Schule oder in näherer Umgebung eine Möglichkeit gibt, Sport zu betreiben, ich denke da etwa an die sicherlich gutgemeinte tägliche Turnstunde.

STANDARD: Die tägliche Turnstunde ist gut gemeint, aber nicht tatsächlich gut, meinen Sie?

Widhalm: Die wäre eigentlich eine super Sache, ist aber aktuell nicht so einfach umsetzbar. Es fehlt in vielen Fällen die Infrastruktur. Es gibt Schulen mit nur einem einzigen kleinen Turnsaal, in dem man nicht wirklich gut Sport treiben kann, und keinen Sportplatz oder eine Laufbahn in unmittelbarer Nähe. Schulen müssen so konzipiert sein, dass man dort Sport treiben kann.

Die Lehrkräfte spielen dabei eine große Rolle. Sie müssen Kindern mit Spaß Sport vermitteln. Das geht nicht per Verordnung, sondern das muss spielerisch passieren. Nur dann werden Kinder auch außerhalb der Schule zum Beispiel in einem Verein Sport betreiben.

STANDARD: Ganz besonders jenen Kindern müsste Spaß am Sport vermittelt werden, die unsportlicher sind als Mitschülerinnen und Mitschüler oder adipös sind und immer ganz zum Schluss in Teams gewählt werden.

Widhalm: Genau. Speziell für diese Gruppe ist es wichtig, ihnen den Sport nicht noch weiter zu vermiesen, wenn sie beim Völkerball immer als Erstes abgeschossen werden. Hochgradig Übergewichtige muss man sehr gefühlvoll in Sportprogramme einbauen. Einen adipösen Jugendlichen kann man nicht so wie andere Schülerinnen und Schüler bitten, auf eine Sprossenwand oder ein Seil hinaufzuklettern. Diese Kinder müssen eben andere Übungen machen.

Wahrscheinlich muss man für diese Jugendlichen eine eigene Gruppe bilden und nach deren Leistungsmöglichkeit Sport treiben. Denn die körperliche Betätigung ist auch für Übergewichtige enorm wichtig, aber sie sollen freilich nicht Atembeschwerden oder gar Knieschmerzen bekommen, wenn sie in einer regulären Turnstunde mitmachen.

STANDARD: Hat diese Trennung in die Dicken und die Dünnen, in die Sportlichen und die Unsportlichen nicht erst recht wieder einen negativen Effekt?

Widhalm: Jedenfalls braucht es ein sehr behutsames, rücksichtsvolles und sensibles Vorgehen von Sportpädagoginnen und Sportpädagogen. Ich war im Zuge eines Präventionsprojekts einmal an einer Schule, da gab es einen hochgradig übergewichtigen Elfjährigen. Ich habe die Schulärztin gefragt, was sie therapeutisch unternehmen möchte, und die Antwort war: Ach, der ist eh schon vom Turnen befreit. Das kann nicht das Ziel sein. Wir müssen sensibler gegenüber Adipösen werden, dürfen sie nicht ausschließen oder ihnen schlechte Turnnoten geben, das ist der nächste wichtige Punkt.

STANDARD: Sie meinen, man sollte Noten speziell in Turnen abschaffen?

Widhalm: Wenn schon Noten, dann sollten sie motivierend sein. Aber oft gibt es für Noten absurde Parameter. Für einen Einser muss man soundso hoch springen, soundso schnell laufen, soundso weit die Kugel stoßen. Das halte ich für völlig falsch. Nicht jeder kann 1,40 Meter hoch springen. Warum kann nicht auch ein übergewichtiger Schüler, der im Turnunterricht immer freudig mitmacht, einen Einser bekommen?

STANDARD: Der zweite wichtige Faktor, die Ernährung, findet in Schulen oft noch weniger Platz als die Bewegung. Was müsste sich hier ändern?

Widhalm: Es hat keinen Sinn, in den Klassen Tafeln aufzuhängen, wo nur Gurkerln und Radieschen abgebildet sind und alle süßen Speisen durchgestrichen sind. Das könnte ein Problem für jene Kinder und Jugendlichen werden, die zu Untergewicht neigen. Die Kinder sollen verstehen, dass man natürlich auch einmal was Süßes oder ein Joghurt mit hohem Fettgehalt zu sich nehmen darf.

Sie müssen spielerisch lernen, schmecken, Pflanzen erforschen und Produkte kennenlernen, die sie von zu Hause vielleicht nicht kennen. Man muss ihnen auch erklären, dass es je nach Jahreszeit unterschiedliches Obst und Gemüse gibt und man nicht das ganze Jahr über Erdbeeren essen kann. Sie müssen lernen, wo das Essen herkommt.

Aktuell gibt es das Präventionsprojekt Eddy, in dem die Schülerinnen und Schüler pro Semester zehn Stunden Ernährungsunterricht bekommen und sich dem Thema gesunde Ernährung auf spielerische Art und Weise nähern. Im Zuge dessen sind wir beispielsweise mit den Kindern auf einen Bauernhof nach Niederösterreich gefahren, und manche von ihnen dachten, Karotten würden auf Bäumen wachsen. Ernährungsumstellung kann nicht von heute auf morgen passieren. Es ist ein langer Prozess.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Eltern in diesem Prozess?

Widhalm: Eine enorm wichtige. Wir beobachten allerdings, dass die sehr oft kein Interesse an dem Thema haben und bei Präventionsprojekten nur ungern mitmachen. Vielleicht haben sie Angst, dass man ihnen etwas wegnehmen will. Dabei wollen wir niemandem das Schnitzel wegnehmen, aber es muss nicht jeden Tag sein. Wir möchten den Kindern beibringen, sich möglichst pflanzlich orientiert zu ernähren und eher kleinere Mahlzeiten zu sich zu nehmen.

STANDARD: Adipositas wird oft vererbt. Wenn beide Eltern übergewichtig sind, ist die Chance groß, dass auch die Kinder übergewichtig werden.

Widhalm: Absolut. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Fokus auf Familien legen. Wir müssen von Anfang an etwas tun, um die körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Da müssen auch die Eltern mitspielen und Vorbilder sein. Prävention muss endlich einen Stellenwert bekommen, sie erspart Erkrankungen, Krankenhausaufenthalte, Medikamente. Durch einen in die Prävention investierten Euro sparen wir sechs Euro, zeigen Berechnungen der OECD.

STANDARD: Wie kann Prävention konkret aussehen?

Widhalm: Dazu fehlen uns wichtige Daten. Die Dokumentation zu Adipositas ist in Österreich sehr lückenhaft. Und das, obwohl die Kinder und Jugendlichen jährlich in den Schulen gewogen und gemessen werden. Das wären extrem wichtige Informationen, denn die Verhältnisse sind je nach Standort unterschiedlich. Wir beobachten das aktuell bei dem Eddy-Forschungsprojekt in Wien. Es kommt ganz darauf an, in welchem Bezirk eine Schule ist, ob sie am Stadtrand mit nahegelegenen Sportstätten ist, wie motiviert das Lehrpersonal ist, wie die Eltern sind. Die Daten sehen in Landeck in Tirol höchstwahrscheinlich ganz anders aus als in Oberpullendorf im Burgenland, aber wir haben sie nicht. Trifft es eher Mädchen oder eher Burschen? Wo gibt es besonders viele hochgradig Übergewichtige, wo hingegen Untergewichtige? Antworten auf diese Fragen wären eine wichtige Grundlage für eine valide und zielgerichtete Intervention.

Schulärztinnen und Schulärzte wären dabei ein wichtiger Partner. Aber die sind oft zu wenig ausgebildet und haben zu wenig Zeit. Viele sind in mehreren Schulen gleichzeitig tätig und fast nie da. Da müssten wir Ärztinnen und Ärzte einsetzen, die auf Prävention geschult sind und sich Zeit nehmen können.

STANDARD: Warum wäre das so wichtig?

Widhalm: Je jünger ein Kind ist, desto eher sind Maßnahmen im Kampf gegen Adipositas erfolgreich. Das ist nur logisch: Solange man noch wächst, kann man das Übergewicht reduzieren, indem man das Gewicht hält. Wenn das Wachstum abgeschlossen ist, müsste man Gewicht abnehmen. Das heißt, die Beobachtung der Körperzusammensetzung ist wichtig. Als Faustregel: Wenn man als Mutter oder Vater bemerkt, dass die Hautfettfalte am Rücken eines Kindes dicker ist als ein Zeigefinger, ist eine Untersuchung bei einem Kinderarzt mit Schwerpunkt auf Ernährungsmedizin angeraten.

Und in weiterer Folge geht es natürlich darum, wie man mit adipösen Kindern und Jugendlichen umgeht. Betroffenen ist nicht geholfen, wenn man ihnen sagt: Iss halt weniger! Das hat der oder die schon hundert Mal gehört und geht beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus. Beratung ist also sinnlos. Außerdem wissen die Jugendlichen, die die Ernährungsberatung bekommen, oft mehr über das Thema als Normalgewichtige. Sensible Ärztinnen und Ärzte müssen das Thema ernst nehmen, gemeinsam mit den Eltern und Kindern Ziele setzen und nicht sagen: Kommen S' halt in einem Jahr wieder.

STANDARD: Vor allem Zucker in Form von Süßigkeiten oder gezuckerten Getränken spielt in der Ernährung von Kindern und Jugendlichen oft eine zentrale Rolle. Manche Fachleute fordern deshalb, dass diese Produkte höher besteuert werden. Sie auch?

Widhalm: Nein, eine Zuckersteuer bringt kaum etwas. Generell ist das Verteufeln von bestimmten Nahrungsmittelbestandteilen wie Zucker oder Fett nicht förderlich. Sicher spielen diese Stoffe eine Rolle in der Diskussion, aber längst nicht die wichtigste. Wir müssen den Kampf gegen Adipositas umfassend sehen.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Widhalm: Ich schlage gar nichts vor, ich verlasse mich auf die Wissenschaft. Und die zeigt, dass Verhaltensänderungen in der Bevölkerung nur gelingen, wenn es Anreize dafür gibt, also etwa finanzielle Vorteile für Menschen, die regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gehen und an präventiven Maßnahmen teilnehmen. Nur predigen, dass sich die Leute mehr bewegen und gesünder ernähren sollen, bringt gar nichts. Das haben wir jetzt jahrzehntelang gesehen. (Magdalena Pötsch, 7.9.2023)