Io Capitano
"Io Capitano" ist einer von drei Filmen, der sich heuer in Venedig der Flüchtlingsthematik angenommen hat.
Greta de Lazzaris

Am Ende wurde es am Lido noch romantisch. Ausgerechnet bei Michel Franco, der mit Memory den Abschlussfilm der diesjährigen Filmfestspiele von Venedig beigesteuert hat. Der mexikanische Regisseur war bislang eher mit äußerst düsteren und misanthropischen Filmen aufgefallen, und auch Memory kommt nicht ganz ohne elefantengroße Probleme aus.

Jessica Chastain spielt darin eine Sozialarbeiterin und Ex-Alkoholikerin mit einer drastischen Missbrauchsgeschichte. Auf einem Klassentreffen glaubt sie, einen ihrer Peiniger wiederzuerkennen. Später stellt sich heraus, dass Saul (Peter Sarsgaard) an Demenz erkrankt ist. Sie pflegen Kontakt, Traumata kommen an die Oberfläche, und eine Liebesgeschichte entspinnt sich. So vorsichtig und leise, dass man fast glauben könnte, Franco sei zum Humanisten geworden.

Saul (Peter Sarsgaard) und Sylvia (Jessica Chastain) haben beide schwer zu tragen, finden aber in Michel Francos "Memory" doch zueinander. Ein bewegender Abschluss der 80. Filmfestspiele von Venedig.
Biennale

Preise für Politik oder Imagination?

Am Samstagabend werden in Venedig die Preise vergeben. Und Peter Sarsgaard hat sich in letzter Minute noch zum Anwärter für den Schauspielpreis aufgeschwungen. Als beste Darstellerin wird weithin Emma Stone für ihre Rolle als wilde Frau mit Kinderhirn in Yorgos Lanthimos’ steampunkigem Wunderling Poor Things gehandelt. Der Film war auf der anfangs durchwachsenen, gegen Schluss interessanter werdenden 80. Kino-Biennale lange Zeit der Konsenskandidat. Honigbäche voller Lob flossen für das Fantasiekinowesen.

Poor Things
Emma Stone auf hoher See in "Poor Things"
Yorgos Lanthimos

Weitaus politischer wäre es indes, wenn die neunköpfige Jury unter dem Vorsitz des US-Regisseurs Damien Chazelle Agnieszka Hollands Green Border auszeichnen würde. Die polnische Kinoveteranin, die mit Hitlerjunge Salomon 1990 nach Hollywood kam und dort wie hier eine außerordentlich vielseitige Karriere gemacht hat, ist nämlich keine klassische Festivalregisseurin.

Zu aktivistisch für Polen

Unter Cinephilen gilt ihr Kino als formal zu wenig anspruchsvoll, in Polen gilt es als zu aktivistisch, wie sich diese Woche an einer Äußerung des polnischen Justizministers zeigte. Früher hätten die Nazis antipolnische Propaganda gemacht, meinte Zbigniew Ziobro, heute mache das Agnieszka Holland.

Holland, die in den 1980ern nach Frankreich emigriert ist und jüdische Wurzeln hat, drohte prompt mit einer Klage wegen des Nazivergleichs. Manchmal ist die Hetze von einer bestimmten Seite schon der Beweis dafür, dass etwas stimmig ist. Doch Hollands mitreißende Geschichte über Geflüchtete, Aktivistinnen und Grenzbeamte an der polnisch-belarussischen Grenze ist auch abseits des Labels der politischen Dringlichkeit ein außerordentlich berührendes, humanistisches Kinoerlebnis.

The green border
"The Green Border" von Agnieszka Holland erzählt bewegend von den Fluchtbewegungen rund um die polnisch-belarussische Grenze.
Agata Kubis

Die blaue Grenze

Auch die Italiener treibt um, was sich an ihrer blauen Grenze tut. Matteo Garrone blickte in Io Capitano auf zwei minderjährige, senegalesische Fliehende, die auf dem Weg zum Mittelmeer Ausbeutung, Hunger und Folter erleiden müssen. Und der historische Eröffnungsfilm Comandante brach eine Lanze für die Seenotrettung. Beide allerdings weniger differenziert als Holland.

Io Capitano Trailer
Screen International

Mit Woman Of stammte ein zweiter, dezidiert politischer Beitrag aus Polen. Der musikalische Film begleitet einen Transsexuellen von seiner Zeit als junger Mann im Kommunismus bis hin zu seinem Outing als Frau Anfang der 2000er-Jahre und zeigt: Identitätsfragen brauchen Zeit und Toleranz.

Rasse ist nich Kaste

Festivalgeschichte schrieb indes Ava DuVernay. Als erste afroamerikanischer Regisseurin war sie in den Wettbewerb des Festivals eingeladen worden, noch dazu mit einem Film, der sich mit aufklärerischem Verve in den Kulturkampf der USA wirft. "Origin" basiert auf dem Critial Race Theory Klassiker "Caste: The Origins of Our Discontents" von Isabel Wilkerson. Eine Sachbuchverfilmung über die These, dass nicht Rasse, sondern Kaste Ursprung der Ungleichheit ist.

Mithilfe gesetzter Emotionalisierungen zielt DuVernay auf ein großes, vorwiegend US-amerikanisches Publikum ab (und schielt auf die Oscars). Als Kinofilm leidet "Origin" indes weitgehend an seiner überaus dichten Theorielastigkeit und kommt einigermaßen akademisch daher – macht aber zugleich neugierig auf das Buch, das den Film inspiriert hat.

ORIGIN Official Trailer (2023)
Movie Trailers Source

Cinephile Lieblinge

Würde die Jury nur aus altgedienten Kritikern bestehen – was sie nicht tut, darunter sind etwa Jane Campion oder die letztjährige Löwen-Gewinnerin Laura Poitras –, dann könnten sich auch Bertrand Bonello und Ryūsuke Hamaguchi gute Chancen auf einen der Hauptpreise ausrechnen. Hamaguchi erzählt in Evil Does Not Exist von einem japanischen Dorf, in dem eine "Glamping"-Stätte (glamouröses Camping) gebaut werden soll. Die Dorfbewohner sorgen sich aber um ihr gutes Wasser und die Tiere im Wald. Fast kippt der Film in eine wohltuende Utopie vom einfachen Leben, da reißt Hamaguchi das Ruder herum und zeigt: Böses existiert sehr wohl.

Evil Does Not Exist
Falsche Idylle in Ryūsuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist".
Biennale

Anwesend, trotz Streiks

Bonellos La Bête (mit Léa Seydoux) imaginiert eine futuristische Dystopie voll mit künstlicher Intelligenz. Darüber machen sich bekanntlich auch die noch immer streikenden Autoren- und Schauspielgewerkschaften in Hollywood sorgen. Dass heuer aber weniger Stars in Venedig gastierten, dürfte vor allem die Luxusmodebranche besorgt haben.

Eine Ausnahme war Jessica Chastain, die für Memory zum Festival angereist ist, obwohl sie, wie sie sagte, "unglaublich nervös" gewesen sei, nach Venedig zu kommen. Einige Leute in ihrem Team hätten ihr wegen der Streiks sogar davon abgeraten.

Sarsgaard Chastain Venedig
Jessica Chastain in Streik-Kluft und Peter Sarsgaard, die Stars von "Memory". Sie hatten eine Ausnahmegenehmigung der Schauspielgewerkschaft.
REUTERS/GUGLIELMO MANGIAPANE

Memory hat wie andere kleinere Produktionen eine Ausnahmegenehmigung der US-Schauspielgewerkschaft bekommen, um trotz Streiks Werbung zu machen. Voraussetzung ist, dass die Produktionsfirma die Forderung der Streikenden unterstützt: "Ich hoffe, dass meine Anwesenheit heute andere unabhängige Produzenten und Schauspieler ermutigt, sich zu zeigen und unsere Gewerkschaftsmitglieder zu unterstützen", sagte Chastain. (Valerie Dirk aus Venedig, 8.9.2023)