Der spanische Innenminister vor dem Schriftzug des Ratsvorsitzes.
Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska will die Chatkontrolle noch vor den EU-Wahlen umgesetzt sehen. Spanien hat aktuell den EU-Ratsvorsitz.
AFP/ANDER GILLENEA

"Genug diskutiert" lautet das Motto der spanischen EU-Ratspräsidentschaft. Spanien will das Gesetz zur Überwachung der digitalen Kommunikation nun einen Schritt weiter bringen: Am 28. September sollen die Justiz- und Innenminister der Union ihren Sanktus zu den umstrittenen Plänen geben.

Heftiger Protest

Seit eineinhalb Jahren verhandeln EU-Parlament und die Mitgliedsländer der Union über den Gesetzesentwurf der Kommission. Das Gesetz sieht die anlasslose Überwachung der digitalen Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger der EU vor. Damit soll vor allem Kindesmissbrauch bekämpft werden.

Das Gesetz sieht vor, dass Messenger-Dienste wie Whatsapp und Host-Provider dazu gezwungen werden, auf Smartphones von Usern nach Missbrauchsmaterial oder Grooming zu suchen. Unter Grooming versteht man die Anbahnung von sexuellen Kontakten zu Minderjährigen.

Diese anlasslose Chatkontrolle stößt auf massive Kritik: Mehr als 80 Datenschutzorganisationen und hunderte Wissenschafter aus aller Welt kritisieren das geplante Gesetz. Selbst der Juristische Dienst der EU-Staaten hält den Gesetzesentwurf für grundrechtswidrig und erwartet deshalb, dass die Chatkontrolle von Gerichten wieder gekippt wird.

Kritik von Kinderschützern

Selbst Kinderschutzorganisationen befürchten, dass das eigentlich als Schutz vor Missbrauch geplante Gesetz Jugendliche gefährden könnte. Die Chatkontrolle könne dazu führen, dass Kinder und Jugendliche vermehrt kriminalisiert werden. Der Grund: Minderjährige würden häufig freiwillig Bildmaterial an andere Teenager verschicken, das als pornografisch eingestuft wird. Das ist mittlerweile auch in der Kriminalstatistik erkennbar: 1.073 Anzeigen wegen der Darstellung von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen gab es im Vorjahr gegen Personen, die selbst unter 18 Jahre alt waren.

Dennoch ist der Zeitplan jetzt straff, wie Netzpolitik.org berichtet. Am Donnerstag soll die Arbeitsgruppe das Gesetz ein letztes Mal verhandeln. Nächste Woche sollen die ständigen Vertreter der EU-Staaten das Gesetz besprechen. Am 28. September wollen die Justiz- und Innenminister ihre finale Position verabschieden. "Man habe bereits lange diskutiert und gute Fortschritte erzielt", wird die spanische Ratspräsidentschaft zitiert. Anschließend können die Trilog-Verhandlungen über die finale Version beginnen.

Österreich ortet "Diskussionsbedarf"

Deutschland hält das vorliegende Gesetz für nicht "abstimmungsreif", wie aus einem Protokoll der Arbeitsgruppe Strafverfolgung hervorgeht, weshalb Deutschland weitere Verhandlungen forderte und den Zeitplan kippen wollte. Polen, die Niederlande und Österreich unterstützten die deutsche Forderung. Auch aus Estland, Schweden und Tschechien kamen kritische Stimmen zum Gesetzesentwurf.

13 Staaten (Irland, Ungarn, Lettland, Italien, Litauen, Rumänien, Frankreich, Zypern, Bulgarien, Dänemark, Kroatien, Malta und die Slowakei) lehnten weitere Verhandlungen ab. Irland sagt, man kann "es niemals allen zu 100 Prozent recht machen".

Österreich und Slowenien sahen noch Diskussionsbedarf, was die Aufdeckungsanordnungen betrifft. Mit Aufdeckungsanordnungen werden Dienstanbieter wie etwa Whatsapp unter behördliche Aufsicht gestellt. Eine eigens geschaffene Zentrale der EU soll daraufhin die Dienste zwingen, die Standards der Union bei der Ausforschung von Missbrauchsmaterial einzuhalten. Für Österreich führt das Innenministerium die Verhandlungen über die Chatkontrolle. Worüber genau noch verhandelt werden soll, ist unklar. DER STANDARD hat das Innenministerium um eine Darlegung der Bedenken gebeten. Sobald diese vorliegt, wird dieser Artikel ergänzt.

Mögliche Kampfabstimmung

Laut dem Bericht gibt es einen weiteren Vorschlag, der von Estland ausgearbeitet wurde: Man soll das Vorhaben zweiteilen. Die unstrittigen Punkte wie das geplante EU-Zentrum oder Risikobewertungen sollen ausgelagert und gleich beschlossen werden. Die heftig umstrittene Chatkontrolle solle ausgeklammert und neu verhandelt werden. Beim Gipfel der Justiz- und Innenminister könnte es demnach zu einer Kampfabstimmung kommen. Vor allem aus dem deutschsprachigen Raum häuften sich die Warnungen vor der anlasslosen Chatktontrolle.

Vier Staaten mit mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung könnten eine Sperrminorität bilden und den Vorschlag verhindern. Dazu müssten sich die Kritikerstaaten, allen voran bevölkerungsreiche wie Deutschland oder Polen, mit kleineren Staaten wie Schweden oder Österreich zusammentun.

Österreich hat sich im Vorjahr als erstes Land der Union gegen die Chatüberwachung ausgesprochen. (pez, 14.9.2023)