Münzen in einer Hand
Durch die Abschaffung der kalten Progression werden die untersten vier Tarifstufen entlastet.
APA/dpa/Friso Gentsch

Seit Jänner gibt es die kalte Progression in ihrer bisherigen Form nicht mehr. Die Steuerstufen werden jährlich mit der Inflation angepasst, womit verhindert werden soll, dass Gehaltserhöhungen von der nächsthöheren Steuerstufe aufgesogen werden.

Allein im kommenden Jahr ersparen sich die Österreicher dadurch 3,65 Milliarden Euro. Zwei Drittel davon erhalten die Menschen automatisch zurück, ein Drittel wird für Härtefälle verwendet. In Zahlen ausgedrückt: 2,45 Milliarden werden über die Anhebung der Tarifgrenzen und die Erhöhung der Absetzbeträge an die Menschen zurückgegeben. Das soll vor allem jene mit geringerem Einkommen besserstellen, die von der Teuerung stärker betroffen sind.

Video: Kalte Progression - Niedere und mittlere Einkommen werden entlastet
APA/ mehr

Das "letzte Drittel" geht heuer bis in den Mittelstand, entlastet werden die untersten vier Tarifstufen. Im Vorjahr wurde das letzte Drittel nur an die unteren beiden Tarifstufen verteilt. "Es ist ein guter Tag für Österreichs Steuerzahler", sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Freitag. Ziel sei immer, dass die Menschen mehr Netto vom Brutto haben. Denn die Inflation sei für viele nach wie vor eine Herausforderung. Die Entlastung werde aber nicht nur über die Anpassung der Tarifgrenzen, sondern auch über höhere Absetzbeträge wirksam. Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) sprach daher von einem "sozialen Drittel" der abgeschafften kalten Progression, weil durch die Entlastung von Familien und Personen mit niedrigen Einkommen der soziale Zusammenhalt gestärkt werde.

Neue Tarifgrenze

Damit das Drittel wirksam wird, hat die Regierung am Freitag ein Bündel an Maßnahmen verkündet. Angehoben werden die Tarifgrenzen und Absetzbeträge. Und zwar so, wie Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) ausführte:

- die erste Tarifstufe um in Summe 9,6 Prozent

- die zweite Tarifstufe um in Summe 8,8 Prozent

- die dritte Tarifstufe um weitere in Summe 7,6 Prozent

- die vierte Tarifstufe um weitere in Summe 7,3 Prozent

Weiters verkündet die Regierung die volle Anpassung der Absetzbeträge:

- Ausweitung der steuerlichen Begünstigung von Überstunden: Um Mehrleistung auch steuerlich anzuerkennen, wird der monatliche Freibetrag dauerhaft von 86 auf 120 Euro angehoben. Befristet auf zwei Jahre (2024 und 2025) soll überdies der monatliche Freibetrag für 18 Überstunden 200 Euro im Monat betragen.

- Erhöhung des Gewinnfreibetrags: Der Grundfreibetrag wird zur weiteren Entlastung von Selbstständigen auf 33.000 Euro angehoben.

- Erhöhung des Kindermehrbetrags: Der Kindermehrbetrag wird von 550 auf 700 Euro angehoben.

- Erhöhung des Zuschusses zur Kinderbetreuung und Erweiterung der Betriebskindergärten: Der höchstmögliche steuerfreie Zuschuss eines Arbeitgebers zur Kinderbetreuung soll von 1.000 auf 2.000 Euro verdoppelt werden und für Kinder bis 14 Jahre möglich sein.

- Verlängerung der Homeoffice-Regelung: Die im Jahr 2021 befristet eingeführten steuerlichen Regelungen betreffend Homeoffice-Tätigkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sollen unbefristet verlängert werden.

- Ausweitung der steuerlichen Begünstigung der Schmutz-, Erschwernis- und Gefahrenzulagen sowie der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit: Der monatliche Freibetrag für diesen Bereich wird auf 400 Euro angehoben.

- Volle Anpassung der Absetzbeträge: Die der automatischen Inflationsanpassung im Ausmaß von zwei Dritteln unterliegenden Absetzbeträge sollen zu 100 Prozent (um weitere 3,3 Prozentpunkte) an die Inflationsrate angepasst werden (der Alleinverdiener-, der Alleinerzieher- und der Unterhaltsabsetzbetrag, die Verkehrsabsetzbeträge und der Zuschlag zum Verkehrsabsetzbetrag, die Pensionistenabsetzbeträge, die Erstattung des Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrags sowie die SV-Rückerstattung und der SV-Bonus).

So werden die 1,2 Milliarden konkret verteilt

Die Verteilung des letzten Drittels wird laut Finanzministerium im Detail so erfolgen:

- Gestaffelte Anpassung der Tarifgrenzen: Kosten rund 640 Millionen Euro

- Absetzbeträge volle Valorisierung: Kosten rund 175 Millionen Euro

- Überstunden: Kosten rund 200 Millionen Euro

- Erhöhung Kindermehrbetrag um 150 Euro: Kosten rund 35 Millionen Euro

- Erhöhung Schmutz-, Erschwernis- und Gefahrenzulage sowie Zulage für Sonntags-, Feiertags- und Nacharbeit auf 400 Euro: Kosten rund 50 Millionen Euro

- Homeoffice: Kosten rund 75 Millionen Euro

- Kinderbetreuungspunkte (Zuschuss und Betriebskindergärten): Kosten rund fünf Millionen Euro

- Gewinnfreibetrag-Erhöhung auf 33.000 Euro: Kosten rund sieben Millionen Euro

Zur Erinnerung: Bis zum Jahr 2020 setzte die Steuerpflicht bei einem Einkommen von 11.000 Euro ein. Heuer liegt die Steuergrenze bei 11.693 Euro, nächstes Jahr bei 12.816 Euro. Im Zuge der Abschaffung der kalten Progression werden alle Tarifgrenzen mit Ausnahme des Spitzensteuersatzes angepasst – die zugrunde gelegte Inflation liegt bei 9,9 Prozent.

IHS-Chef Holger Bonin hatte zuletzt die Idee ins Spiel gebracht, das letzte Drittel breiter aufzuteilen und die Mittelschicht ebenfalls zu entlasten. Dann bestehe für die Sozialpartner bei den im Herbst startenden Lohnverhandlungen weniger Druck für Einkommenssteigerungen, weil den Menschen durch die Steuerentlastung ohnehin mehr Geld bleibe.

Dass heuer nicht ausschließlich die unterste Einkommensschicht berücksichtig wird, erklärte Nehammer damit, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Daher sei eine breitere Entlastung auch angebracht.

Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP), Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) betreten den Raum für eine Pressekonferenz.
Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), Bundeskanzler Karl Nehammer und Finanzminister Magnus Brunner (beide ÖVP) haben gerechnet und das "letzte Drittel" aus der kalten Progression verteilt.
APA/EVA MANHART

Lob von IV und Wirtschaftsbund, Kritik von SPÖ

Der Wirtschaftsbund (WB) begrüßte das Paket. Damit seien viele Forderungen berücksichtigt worden, teilte der WB mit. Von der Anhebung des Gewinnfreibetrags für Selbstständige auf 33.000 Euro würden besonders kleine Unternehmen profitieren. "Das heute präsentierte Maßnahmenpaket unterstützt Unternehmen in Zeiten des Arbeitskräftemangels und schwächelnder Konjunktur, belohnt Leistung und stärkt den Standort", teilt WB-Generalsekretär Kurt Egger mit.

Lob kam auch von der Industriellenvereinigung (IV). Sie hatte unter anderem die Erhöhung des Zuschusses zur Kinderbetreuung und steuerliche Erleichterungen für Betriebskindergärten vorgeschlagen, um die Leistungsanreize für arbeitende Menschen in Österreich zu erhöhen. "Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, müssen wir alle Potenziale ausschöpfen und die Rahmenbedingungen so gestalten, dass eine Vollzeittätigkeit nicht nur attraktiv, sondern auch möglich ist", sagte IV-Präsident Georg Knill. Neben den aktuell umgesetzten Maßnahmen spricht sich Knill für weitere umsetzbare Anreize aus, beispielsweise im Fall der Weiterarbeit nach dem Regelpensionsalter, um die Leistungspotenziale am Arbeitsmarkt rasch zu heben.

Kritik gab es von der SPÖ. Das Ergebnis der angekündigten Maßnahmen werde eben nicht sein, dass sich die Arbeitnehmer mehr werden leisten können; denn sie zahlten wegen der hohen Inflation sehr viel mehr für Wohnen, Energie und Lebensmittel zusätzlich an der Kasse und an den Finanzminister über die Umsatzsteuer. Allein an Umsatzsteuer zahlten demnach die Haushalte im Vorjahr um 4,8 Milliarden Euro mehr. Im ersten Halbjahr 2023 waren es noch einmal 1,8 Milliarden Euro. "Das Regierungsversagen bei der Teuerung belastet den durchschnittlichen Haushalt mit 1.200 Euro pro Jahr allein bei der Umsatzsteuer. Und das wird durch das Trostpflaster bei der kalten Progression nicht annähernd ausgeglichen", kritisierte SPÖ-Finanzsprecher Kai Jan Krainer.

Licht und Schatten

Wifo-Expertin Margit Schratzenstaller erkennt in dem Paket mehrere Aspekte. Der soziale Akzent sei, dass der Kindermehrbetrag erhöht wird. Das schaffe vor allem für Familien im unteren Einkommensbereich eine Erleichterung. Dass das Homeoffice in Dauerrecht übergehe, hält die Expertin aus ökologischen Gründen für sinnvoll. Das könne die Verkehrsbelastung einschränken. Auch die Erhöhung des Zuschusses für Kinderbetreuung entlaste erwerbstätige Eltern.

Einen Wermutstropfen sieht Schratzenstaller aber in der Anhebung der Überstundensätze. Diese Überstunden würden meist von Männern geleistet, die nun eine höhere Abgeltung bekommen. Das erhöhe die Ungleichheit in Bezug auf die nichtbezahlte Arbeit von Frauen (Pflege, Familie). Als kurzfristige Maßnahme zum Ausgleich des Fachkräftemangels könne Schratzenstaller den Ansatz zwar verstehen. Das Problem des fehlenden Personals werde so aber nicht gelöst.

"Wenig Licht und viel Schatten" sieht der ÖGB in den vorgestellten Maßnahmen. "Dass unsere Forderung nach einer Erhöhung des Kindermehrbetrags erfüllt wird, ist gut. Viel mehr Positives gibt es aber über die Verteilung der Mittel aus der kalten Progression nicht zu sagen", reagiert ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian auf die Pläne der Bundesregierung. "Bei fast 50 Millionen unbezahlten Mehr- und Überstunden pro Jahr hat es wenig Sinn, über eine Ausweitung der steuerlichen Begünstigung zu reden", rechnet Katzian vor. "Außerdem muss das Ziel eine Arbeitszeitverkürzung sein und nicht eine – oftmals unbezahlte – Verlängerung."

Sozialer Ausgleich beschränkt

Der erzielte soziale Ausgleich durch den Regierungsvorschlag sei sehr beschränkt, urteilt das gewerkschaftsnahe Institut Momentum. Zwar komme die Erhöhung der ersten und zweiten Tariflohnstufe von den unteren Einkommensfünfteln bis hin zu den Besserverdienern allen zugute. Aber von der Anpassung der dritten und vierten Tariflohnstufe profitierten hauptsächlich Besserverdiener und von der Anpassung der vierten Stufe lediglich die einkommensstärksten 20 Prozent. "Die Regierung nimmt beim Ausgleich der Inflation an, dass alle mit der gleichen Inflationsrate von 9,9 Prozent konfrontiert sind. Einkommensärmere Haushalte haben aber eine um einen Prozentpunkt höhere Inflationsrate als Menschen im oberen Einkommensfünftel", kritisiert Momentum. In Anbetracht dessen wäre laut Momentum dieses Jahr ein stärkerer sozialer Ausgleich, wie schon letztes Jahr, angebrachter gewesen.

Und wann kommt die Entlastung?, fragen die Neos als Reaktion auf das Paket. "Die So-tun-als-ob-Politik der Bundesregierung geht also munter weiter", sagt Neos-Wirtschafts- und -Sozialsprecher Gerald Loacker. "Auch wenn es ÖVP und Grüne noch so oft behaupten: Die seit Jahrzehnten überfällige Abschaffung der kalten Progression ist keine steuerliche Entlastung, sie ist nur der Verzicht auf eine zusätzliche Belastung durch die schleichende Steuererhöhung." Niemand in Österreich werde kommendes Jahr weniger Steuern bezahlen, die jetzt präsentierten Maßnahmen sorgten lediglich dafür, dass Teile der Bevölkerung nicht noch mehr Steuern zahlen, so Loacker.

"Taschenspielertrick"

Die FPÖ sieht in der Abschaffung der kalten Progression gar einen "Taschenspielertrick", wie sie in einer Aussendung mitteilte. "Die kalte Progression wurde nicht abgeschafft, sondern lediglich um zwei Drittel reduziert. Das verbleibende Drittel nimmt sich der Staat nach wie vor vom Steuerzahler, um es umzuverteilen", erklärte der oberösterreichische Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner (FPÖ). "Die Steuern auf Arbeit sind in Österreich nach wie vor viel zu hoch. Im Sinne der Leistungsgerechtigkeit muss die Bundesregierung hier endlich handeln und die arbeitende Bevölkerung entlasten. Es kann nicht sein, dass ein großer Teil der Menschen fast die Hälfte der Zeit für einen unnötig aufgeblähten Staat arbeiten muss statt für sich und ihre Familien", so Haimbuchner.

Dénes Kucsera, Ökonom bei der Agenda Austria, sieht in der Abschaffung der kalten Progression keine wirkliche Abschaffung. Wolle die Regierung eine Politik für Familien machen und eine steuerliche Entlastung bringen, "dann nicht mit dem Geld, das sie aus der kalten Progression abziehen", sagt Kucsera. Er kritisiert auch, dass nicht jeder zu gleichen Teilen von den vorgestellten Maßnahmen profitiere. Eine Single-Frau, die keine Überstunden macht, profitiere gleich von zwei neuen Maßnahmen nicht. Wolle man die kalte Progression wirklich abschaffen, "muss man das Schweizer Modell nehmen, wo alle Steuertarife und Absetzbeträge an die Inflation angepasst werden", so der Ökonom.

Spielraum fehlt

Christoph Badelt, Präsident des Fiskalrats, stufte die vorgestellten Maßnahmen als "auf den ersten Blick sehr vernünftig" ein. Im Ö1-"Mittagsjournal" betonte er, dass die niedrigen Einkommensstufen stärker entlastet würden. Die stärkere steuerliche Entlastung von Überstunden und die Verlängerung der Homeoffice-Regelung passten als arbeitsmarktpolitische Maßnahme gut in eine Situation des Arbeitskräftemangels. Badelt verwies aber auf die Tatsache, dass durch die Abschaffung der kalten Progression der Regierung in kommenden Haushalten Spielraum fehlen werde. (Bettina Pfluger, 15.9.2023)