Béatrice Dalle in
Béatrice Dalle spielt in "Das Tier im Dschungel" eine mystische Erzählerin, eine Schicksalslenkerin.
Anna Falgueres

Was ist eigentlich dran an Henry James’ Jahrhundertwende-Novelle The Beast in the Jungle, dass sich ihrer gleich zwei der interessantesten europäischen Filmregisseure zeitgleich angenommen haben? Bertrand Bonello mit La Bête, der heuer in Venedig lief und möglicherweise bald auf der Viennale zu sehen sein wird, und der in Paris lebende Wiener Patric Chiha, dessen Film Das Tier im Dschungel Anfang des Jahres auf der Berlinale Premiere feierte.

Das Faszinosum Henry James

"Die Sprache", erwidert Patric Chiha, fragt man ihn nach dem Faszinierenden an Henry James’ Werk. "James hat am Ende seines Lebens seine Romane liegend diktiert, und daraus entstanden sehr komplizierte, lange Sätze, deren Kern nie ganz klar ist." Die Form, das gilt auch für seinen neuen Film, interessiert Chiha weit mehr als der Inhalt.

Und dann sind da noch James’ Figuren: John und May, die sich im Laufe ihres Lebens immer wieder begegnen. John ist überzeugt davon, dass sein Leben durch ein kommendes Ereignis vorbestimmt sei. Eine Katastrophe, die auf ihn lauert wie das titelgebende Tier im Dschungel. Damit zieht er May in seinen Bann. Beide warten sie, während das Leben an ihnen vorbeizieht.

Das Tier im Dschungel Chiha
Tom Mercier als John, Anaïs Demoustier als May. Das Leben zieht an ihnen vorüber.
Panorama © Elsa Okazaki

Das Warten, das Schauen

Dabei liegt das Warten dem 1975 in Wien geborenen Filmemacher Patric Chiha so gar nicht. Mit 17 zog er nach Paris, Wien sei in den ­1980er-Jahren eine "harte, kalte Stadt" gewesen, gerade für einen jungen schwulen Mann, der optisch eher seinem libanesischen Vater glich als seiner ungarischen Mutter. In Frankreich wurde Chiha sesshaft, in Brüssel studierte er Film.

Patric Chiha
Der Wiener Regisseur Patric Chiha lebt seit seinem 18. Lebensjahr in Paris, dreht aber lieber in Wien.
Elsa Okazaki

Doch am liebsten dreht der Regisseur, der 2016 mit der poetischen Dokumentation Brüder der Nacht größere Bekanntheit erlangte, in Wien: "Ich verstehe Wien. In Paris möchte ich nicht drehen. In Wien ist für mich Platz für das Schöne und Schreckliche im Leben." Brüder der Nacht handelte ebenfalls von Wartenden, Roma-Callboys, die sich die Zeit zwischen ihren Freiern mit Tanzen vertreiben. Was fasziniert so am Warten und Tanzen?

Beides hat mit dem Kino zu tun. "Meine Protagonisten sind Zuschauer, wie im Kino", sagt Chiha. "Wenn ich einen Film ansehe, dann habe ich nicht das Gefühl, dass ich passiv bin, sondern dass ich eine Beziehung zum Leben habe, viel lerne und verstehe." Beim Tanzen ist es ähnlich. Es geht nicht nur um den Kontrollverlust, um "den großen Moment, in dem man sich wirklich wohlfühlt", sondern auch um das Schauen, um das Fantasieren._Darum, "Geschichten in die Gesichter zu projizieren. All diese möglichen Liebesgeschichten."

Drei Jahrzehnte in Musik

Und so wundert es nicht, dass die Beziehung zwischen May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier) in Das Tier im Dschungel über weite Strecken im Raum des Möglichen verharrt. Während sie am Rand der Tanzfläche stehend die Tanzenden betrachten, zieht das Leben an ihnen vorüber.

Filmgarten

1980, 1990, 2000: Drei Jahrzehnte in Form von sich verändernder Clubmusik, wechselnden Moden, unterschiedlichen Tanzstilen. Doch May und Tom sind nicht die einzige Konstante in der sich verändernden Welt, auch Monsieur Pipi, der die Clubtoiletten beaufsichtigt, und die Empfangsdame bleiben an Ort und Stelle.

Béatrice Dalle spielt die rätselhafte Dame, dunkel und mystisch könnte sie Erzählerin oder Hexe sein. Jedenfalls wirkt Dalles_Figur wie eine Schicksalslenkerin, aber eine, die ihre Mündel nicht – oder zu spät – erlöst.

Größer als das Leben

Der in wunderschönen Kleidern strahlenden May gelingt es nicht, den hölzernen und einsilbigen John auf die Tanzfläche zu locken. Ihre Faszination für John ist illusorisch, das denken zumindest ihre Freundinnen und ihr späterer Ehemann, die sich frustriert von dem Paar abwenden.

Patric Chiha sieht das anders: "May sagt einmal, dass sie es liebe, wenn das Leben ein Roman sei. Darunter verstehe ich, dass das Leben ein bisschen größer sein sollte. In John hat sie jemanden gefunden, der ihr das ermöglicht. Es geht um Fantasie und Wirklichkeit, was glauben wir vom Leben, wie spielen wir es, wie werden wir von der Wirklichkeit eingeholt. Ich sehe darin eine existenzialistische Parabel." (Valerie Dirk, 16.9.2023)