Kamerakind Schorsch (Georg Vogler, li.) und die Moderatoren Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff) und Michelle Pelosi (Anke Zillich)
Es geht drunter und drüber im Volkstheater-Fernsehstudio: Kamerakind Schorsch (Georg Vogler, li.) und die Moderatoren Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff) und Michelle Pelosi (Anke Zillich).
Marcel Urlaub / Volkstheater

Eine Viertelstunde vor Beginn ist das Animationsprogramm schon voll angelaufen. DJs (Max Hammel und Fiete Wachholtz) beschallen mit Dancepop den Zuschauerraum, die Scheinwerfer kreisen, auf der Bühne wirbelt ein QR-Code, der auf eine Website verbindet, über die man später an einer Umfrage teilnehmen darf, ja soll. Einmal gilt im Theater: Handy raus!

Du musst dich entscheiden! lauten Titel und Motto des Abends. Angesichts der aktuellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt strapazierenden Krisen und im Nachklang der Pandemie versucht das Wiener Volkstheater eine geistige Standortbestimmung der Alpenrepublik. Dafür zusammengetan haben sich ausgerechnet zwei "Piefke": Hausherr Kay Voges und Johan F. Hartle, Rektor der Wiener Akademie der bildenden Künste. Beide fühlen in ihren Institutionen bestenfalls stets den Puls der Zeit. In monatelangem Pingpong haben sie ein Stück geschrieben, das zugleich Gameshow ist. In Fragerunden muss das Publikum sich zwischen je drei Antwortoptionen auf brennende Gesellschaftsfragen entscheiden. Wer von den Kandidaten auf der Bühne die Mehrheitsmeinung errät, gewinnt.

Bitterböse Klischeekiste

Bei den Kandidaten haben Voges und Hartle tief in die bitterböse Klischeekiste gegriffen. Da ist mit der Matthias-Reim-Frisur Rico (Uwe Schmieder) als mittelalter und abgehängter Ostdeutscher, er tritt mit seiner Frau Nilufar aus dem Iran (Hasti Molavian) an. Layla (Paula Carbonell Spörk) mit den Pronomen they/them ist antirassistisch und antikapitalistisch bis zum Sitzstreik. Maik (Fabian Reichenbach) und Moritz (Hardy Emilian Jürgens) aus Graz betreiben eine Agentur für nachhaltige Reisen nach Fernost, wollen aber nicht, dass ihre Kinder wegen der Ausländer auf eine öffentliche Schule gehen. Der hemdsärmelige Kärntner Ferdinand (Günther Wiederschwinger) vertraut dem Pfarrer, statt selber zu denken. Japan, China, Korea? Für die Westler ist alles eins, rastet Kyung-Hye Song (Kaoko Amano) aus. Dass es bei der Bandbreite zwischen den Figuren auf der Bühne und dank Livekamera auch backstage ab und zu knallt – keiner hat nur oder nie recht –, gehört zum theatralen Konzept.

Ebenso wie gute, nicht immer leicht und eindeutig zu entscheidende Fragen und teils originelle Antwortmöglichkeiten. Hat Putin den Tod verdient? Soll die Sterbepflicht ab 90 eingeführt werden? Ist man für oder gegen Klimakleber? 70 Prozent votieren bei einer Frage gegen FPÖ-Chef Herbert Kickl als Kanzler.

Kongeniale Nachahmung

Das Moderatorenduo (Anke Zillich im Glamdomina-Look und Elias Eilinghoff mit Schwerenöterlachen) bemüht sich um etwas Ordnung. Kongenial werden in der Fernsehstudiokulisse (Michael Sieberock-Serafimowitsch) aber auch andere Eckpfeiler einer soliden TV-Unterhaltungsshow aufs Korn genommen. Es werden Autos demoliert, ein Schneeballballett (Kostüme: Mona Ulrich) tritt auf, man rutscht auf Erbrochenem aus. Eine Pekingoper als Showeinlage macht hinsichtlich kultureller Aneignung nervös – was aber natürlich von Regisseur Voges so gewollt ist. Die eigene Geschichte als sicherer Hafen? I wo! Das Kaiserpaar Sisi und Franzl freut sich über das von Juden und Sozialisten "saubere" Ischl.

Voges und Hartle sind mit allen diskursiven Wassern der politisch korrekten bis "woken" Gegenwart gewaschen, von Schiller bis Marx (Christoph Schüchner) ziehen sie Denker aus der Geschichte hinzu. Nach über zweieinhalb Stunden belohnt das Publikum mit tosendem Applaus einen anregenden Abend voller Hirnschmalz und flotter Dialoge, der sich gerade wegen seines hohen Bewusstheitslevels nicht vor Zoff und Hau-drauf-Witzen scheut. (Michael Wurmitzer, 17.9.2023)