Liegt in Umfragen vorne: der slowakische Ex-Premier Robert Fico.
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Dreißig Jahre nach der Geburt der unabhängigen Slowakei wirkt unser Nachbarland nicht zum ersten Mal als politisch völlig unberechenbar. Wer hätte das gedacht, dass der 2018 durch Massenproteste wegen der Ermordung des Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten aus dem Amt gejagte umstrittene Ministerpräsident Robert Fico laut den Umfragen die besten Chancen bei den vorzeitigen Parlamentswahlen am 30. September haben würde?

In ihrem glänzenden Gastkommentar hat die Schriftstellerin Susanne Gregor die historisch-sozialen Wurzeln der besonders starken "Zauber der Autokratie" in der Slowakei beleuchtet (STANDARD, 17. 9.). Da ich einige der bedeutendsten Spitzenpolitiker, unter anderen die Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar (1990–1991, 1992–1998), Mikuláš Dzurinda (1998–2006) und Robert Fico (2006–2010, 2012–2018) persönlich kenne, möchte ich zusätzlich auf die paradoxe Rolle der Persönlichkeiten bei der Unberechenbarkeit der slowakischen Politik hinweisen.

Ein nationalistischer Politiker, Vladimír Mečiar, war federführend bei der friedlichen Auflösung der Tschechoslowakei im krassen Gegensatz zur jugoslawischen Tragödie gewesen. Nachher führte aber der anfänglich populäre Mečiar sein Land in den Sumpf der Korruption und Skandale.

Die zwei fähigsten konservativ-liberalen Politiker der Slowakei waren zweifellos Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda und Finanzminister Ivan Mikloš, die den Weg zur Mitgliedschaft in der EU und der Nato freimachten. Ihre auch international anerkannten Wirtschaftserfolge wurden allerdings in der Schlussphase durch Korruptionsskandale auch unter dieser Regierung überschattet.

Der zweifellos trickreichste und mit allen Wassern gewaschener Taktiker ist der 59-jährige Robert Fico, der seit 1999 die von ihm gegründete und der Sozialdemokratischen Partei Europas angehörende Smer (auf Deutsch "Richtung") dreimal an die Regierungsspitze führte. Der sich als "pragmatischer Sozialdemokrat" bezeichnende Fico war und ist bereit, für den Machterhalt mit den übelsten Nationalisten eine Koalition zu bilden. Er hat sich mehrmals neu erfunden. Mit immer radikaleren, ausländerfeindlichen und Russland-freundlichen – und zugleich linkspopulistischen Äußerungen strebt Fico jetzt in der zersplitterten Parteienlandschaft eine Rückkehr an die Macht an.

Komplexes Bild der Slowakei

Die Slowakei ist aber kein Ungarn, und Fico ist kein Viktor Orbán mit einem Siegermythos. Smer hatte bei den letzten zwei Wahlen viele Stimmen verloren. Der mit Fico zerstrittene Nachfolger als Regierungschef (2018–2020), Peter Pellegrini, tritt mit einer gemäßigteren eigenen Liste bei der Wahl auf.

Dass die liberale Staatspräsidentin Zuzana Čaputová an die Spitze der von ihr Mitte Mai bis Ende September eingesetzten Expertenregierung mit dem Vizepräsidenten der Nationalbank, Ľudovít Ódor, einen unabhängigen Fachmann ungarischer Herkunft gestellt hat, wäre in Rumänien oder Serbien, Ländern mit ungarischer Minderheit, unvorstellbar.

Diese in Ungarn als "historisches Ereignis" betrachtete Entscheidung gehört übrigens ebenso zum komplexen Bild der Slowakei wie die offene Unterstützung des Orbán-Regimes von Putin-Freund Fico. (Paul Lendvai, 18.9.2023)