Ein Poster in den Straßen Bakus zeigt die aserbaidschanische Flagge und einen zielenden Soldaten. Nun hat das Land einen Militäreinsatz in Bergkarabach gestartet.
AFP/TOFIK BABAYEV

"Krieg. Die Kinder sind in der Schule. Der Beschuss dauert seit einer halben Stunde an. Keine Verbindung. Es gibt keine Autos, um die Kinder von der Schule abzuholen", sagt Artsakh Metaxe, Abgeordnete der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach. Explosionen seien zu hören, Einschläge von Artilleriegranaten. "Im Moment sind die Hauptstadt Stepanakert, andere Städte und Dörfer intensivem Beschuss ausgesetzt", berichten die Behörden. Der nächste Krieg um die zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpfte Region Bergkarabach hat am Dienstag wohl begonnen.

Aserbaidschan führt nach eigenen Angaben "Antiterroreinsätze" durch. Diese Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte Baku mit. Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden. Unmittelbar nach Beginn der Kämpfe hatte der Ministerpräsident Armeniens, Nikol Paschinjan, eine Sitzung des armenischen Sicherheitsrats einberufen.

Armenien und Aserbaidschan, beides Ex-Sowjetrepubliken, sind seit langem verfeindet. Bergkarabach ist mehrheitlich von Armeniern bewohnt, beide Staaten erhoben nach dem Zerfall der Sowjetunion Anspruch auf die Region. Seitdem wird um Bergkarabach gekämpft. Zunächst hatte Armenien die Oberhand. Doch im Krieg von 2020 siegte Aserbaidschan und eroberte Teile Bergkarabachs zurück. Russische Soldaten überwachten seitdem eher halbherzig den brüchigen Frieden.

Versorgung gekappt

Nun also wieder Krieg. Dabei leiden die Menschen in Bergkarabach schon genug. Hunger gehört zum Alltag, seit aserbaidschanische Truppen vor Monaten den Latschin-Korridor geschlossen hatten, die einzige Straßenverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach mit seinen etwa 120.000 dort lebenden Armeniern.

"Ich stand seit sieben Uhr morgens in der Schlange, dann ging das Licht in der Bäckerei aus", erzählt Arshak Abramyan dem STANDARD. Stromausfall, wie so oft in diesen Tagen. Strom gibt es nur unregelmäßig seit der Blockade. Erst Stunden später konnten die Bäcker mit der Arbeit beginnen.

Es gebe buchstäblich einen Mangel an allem, erzählen die Einwohner von Stepanakert, der Hauptstadt der Region. Nahrungsmittel fehlen, Medikamente ebenso. Die Schlangen vor den Geschäften werden immer länger. Und Menschenrechtler vor Ort berichten von den ersten Hungertoten. Stundenlanges Warten auf Brot, es ist die Aufgabe der Kinder geworden. Die Erwachsenen arbeiten oder stehen anderswo an.

Spätnachts kommt etwa der 13-jährige Arsen heim – ohne Brot. Morgen wird er wieder zur Bäckerei gehen. Vielleicht klappt es ja. "Manchmal kommt es vor, dass die Leute bis vier oder fünf Uhr morgens in der Schlange stehen und trotzdem ohne Brot nach Hause gehen", erzählt Seyran Mailyan.

Auch Gemüse und Obst seien kaum zu bekommen, sagt er. In den Dörfern gebe es nicht genug Diesel für die Laster, die die Ernte in die Stadt bringen. Das ständige Anstehen sei besonders schlimm für ältere Menschen, sagt Mary Asatryan, die stellvertretende Bürgerbeauftragte vor Ort. "Viele werden in den langen Schlangen ohnmächtig."

"Die humanitäre Lage in Bergkarabach ist schwierig", weiß Ministerpräsident Paschinjan. Auch ein Hilfskonvoi des russischen Roten Kreuzes, der erstmals wieder Lebensmittel gebracht habe, ändere daran nichts. Von den russischen Friedenstruppen sind viele Armenier enttäuscht. Paschinjan wollte nun ein Zeichen setzen.

Vorwürfe gegen Russland

Eine geplante Militärübung des Militärbündnisses OVKS, eine Art Gegen-Nato Russlands, hat er als zwecklos abgesagt. "Eagle Partner 2023" heißt eine kleine, eher symbolische Militärübung mit den USA, die in diesen Tagen stattdessen durchgeführt wird. In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica erklärte Paschinjan, Russland habe dabei versagt, Armenien vor den Aggressionen Aserbaidschans zu schützen.

"Russlands zögerliches Agieren gegenüber Aserbaidschan zeugt offensichtlich von der Angst, das Land als wichtigen Wirtschaftspartner zu verprellen und den dahinterstehenden türkischen Verbündeten nicht zu provozieren", sagt Nadja Douglas vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien. Russland braucht die Türkei, das Land trägt die Sanktionen des Westens im Ukrainekrieg nicht mit, viele sanktionierte Waren kommen auf diesem Umweg ins Land.

Maria Sacharowa jedenfalls, Sprecherin des russischen Außenministeriums, forderte laut der Nachrichtenagentur Reuters sowohl Aserbaidschan als auch Armenien dazu auf, das "Blutvergießen" zu beenden. Russland sei besorgt über die Eskalation, Moskaus Friedenstruppen würden ihre Mission fortsetzen. Laut dem aserbaidschanischen Verteidigungsministerium würden humanitäre Korridore eingerichtet, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen könnten. (Jo Angerer, 19.9.2023)