In der Stadt Jewlach fanden am Donnerstag Unterredungen zwischen Aserbaidschan und den ethnischen Armeniern aus Bergkarabach statt. Bisher wurden keine konkreten Lösungen erzielt.
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Die zwei Kinder auf dem Video sind keine zehn Jahre alt. Sie stehen im steinernen Altarraum einer Kirche in Stepanakert. Warum sie hier sind, fragt sie der Lokaljournalist Marut Vanyan. "Es ist Krieg, deshalb sind wir hier", antwortet der Ältere der beiden. Die zwei in Jacken gepackten Jungen sind mit ihrer Großmutter am Donnerstag hierher evakuiert worden, nachdem die Lage in der Provinzhauptstadt von Bergkarabach auch drei Tage nach dem Ein-Tages-Krieg alles andere als übersichtlich ist.

Ein paar Stunden zuvor hatte Vanyan ein anderes Video gepostet, vom Eingang des Spitals in Stepanakert. Er sei dort hingegangen, schrieb er, um sein Handy aufzuladen. Denn der Strom war bereits in weiten Teilen der Stadt seit Stunden ausgefallen. Während die Kamera läuft, ist im Hintergrund das Rattern von Kalaschnikows zu hören.

Am Dienstag hatte Aserbaidschan eine Großoffensive gestartet, um das abtrünnige Bergkarabach wieder ganz ins eigene Land einzugliedern. In einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats am Donnerstag warf Armenien Aserbaidschan daraufhin vor, mit "ethnischen Säuberungen" gegen die armenische Bevölkerung vorzugehen. Der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschan um die umstrittene Region reicht bis in die Zeiten der Sowjetunion zurück. Anfang der 1990er-Jahre erkämpften sich Armenier die Kontrolle über weite Teile Bergkarabachs. 2020 eroberte Aserbaidschan bereits einen Großteil der Region zurück, die seitdem nur noch über den schmalen Latschin-Korridor mit Armenien verbunden ist.

Streitpunkt Waffen

Am 19. September hat Baku schließlich Ernst gemacht: Während Russland, das traditionell als Armeniens Schutzmacht fungiert, in der Ukraine beschäftigt ist, fielen Aserbaidschans Truppen ein, um auch den Rest der Enklave zurückzuerobern. Binnen weniger Stunden haben die dort ansässigen Armenier einer Waffenruhe zugestimmt. Effektiv kam das einer Kapitulation gleich, denn die Waffenruhe fußte ganz auf den Bedingungen Aserbaidschans: Sie müssen die Waffen abgeben und die dortigen administrativen Strukturen zerschlagen. 1991 hatten sich die ethnischen Armenier vor Ort unabhängig erklärt und die Republik Arzach ausgerufen. International ist diese nicht anerkannt, die Region gehört zu Aserbaidschan.

Die Konfliktsituation um Bergkarabach.

Bei der Offensive sollen nach Angaben der armenischen Separatisten in Bergkarabach rund 200 Menschen getötet worden sein, darunter auch Zivilisten und Kinder. Rund 400 Menschen seien verletzt worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Am Donnerstag fanden in der Stadt Jewlach auch gleich Gespräche zwischen den ethnischen Armeniern und Aserbaidschan statt. Diese konnten aber keine "endgültigen Vereinbarungen zwischen den Konfliktparteien" erzielen, wie die russische Nachrichtenagentur RIA einen Vertreter der Armenier zitierte. Streitpunkt ist vor allem die aserbaidschanische Forderung, dass die Armenier ihre Waffen abgeben müssen. Diese wiederum fordern erst Sicherheitsgarantien. "Sie können uns jederzeit zerstören, einen Völkermord an uns verüben – verstehen Sie das, Reuters?", sagte David Babajan zur internationalen Nachrichtenagentur und fügte hinzu: "Der Westen schweigt, Russland schweigt, Armenien schweigt. Was sollen wir tun?"

Bei den Verhandlungen war auch ein Vertreter der russischen Friedenstruppen anwesend. Diese waren seit 2020 vor Ort, um die damalige Waffenruhe zu überwachen und für die Sicherheit der ethnischen Armenier zu sorgen. In den vergangenen Monaten hat ihre Passivität aber zunehmend Ärger und Sorge unter den Armeniern ausgelöst.

Proteste in Eriwan

Auch am Mittwoch protestierten etliche Menschen in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Man würde sowohl von Russland als auch von der armenischen Regierung im Stich gelassen, lautet die Kritik. Tatsächlich hatte sich Armeniens Premier Nikol Paschinjan unter wachsendem geopolitischem Druck zunehmend aus dem Konflikt herausgehalten. Bezüglich der Gespräche in Jewlach hatte er bloß grundsätzlich für Frieden geworben: "Frieden ist eine Umgebung ohne zwischenstaatliche und interethnische Konflikte", sagte er in einer Rede an die Nation. "Man muss den Frieden schätzen und darf Frieden nicht mit Waffenruhe und Waffenstillstand verwechseln."

Auf internationale Unterstützung dürften die Armenier in Bergkarabach somit wohl vergeblich hoffen. Die russischen Truppen haben laut eigenen Angaben mittlerweile rund 5.000 Karabach-Armenier evakuiert. Auf die Bevölkerung vor Ort – in Bergkarabach leben mehrere Zehntausend Menschen – kommen damit schwere Wochen zu. Bereits vor dem folgenschweren 19. September litten sie unter einer Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbaidschan. Die Versorgung der Region mit Medikamenten und Nahrung war zunehmend schwierig. Die Hoffnungen, dass die Menschen, die nun evakuiert werden, wieder in ihre Häuser zurückkehren können, sind gering. (Anna Sawerthal, red, 21.9.2023)