Wer dieser Tage nach China eingeladen wird, dem wird in Schanghai vorgeführt, dass China nun für sich beansprucht, Trendsetter zu sein. Die Moderne wird nicht mehr von den USA und Europa nach China importiert. China ist der Ort, an dem unsere Zukunft heute schon Realität ist. Während Europa in der Pandemie den Rückwärtsgang eingelegt hat und sich in Entschleunigung übte, ging die Entwicklung in China weiter. An einem Beispiel wird das augenfällig: Fast die Hälfte aller in Schanghai fahrenden Autos sind E-Autos.

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Die chinesische E-Automobil-Industrie boomt. Die Produktionszahlen sind entsprechend hoch.
APA/AFP/HECTOR RETAMAL

Der Erfolg der E-Automobil-Industrie ist das Gegenbeispiel zur derzeit kursierenden Erzählung über die schwerwiegenden Probleme in der chinesischen Wirtschaft. An diesem Erfolg kann man erkennen, dass die Probleme der chinesischen Wirtschaft Struktur- und Transformationsprobleme sind. Seit langem ist den Expertinnen und Experten bekannt, dass China nicht mehr auf das Erfolgsrezept der letzten Dekaden setzen kann. Die Arbeitskräfte werden knapp und immer teurer, die Ressourcen ebenso. Eine auf billige Produkte setzende Wirtschaft ist nicht nachhaltig.

Der Staat, der überall in Ostasien – also auch in Japan, Taiwan und Südkorea – der strategische Motor wirtschaftlicher Entwicklung ist, hat dieses Problem im Blick. Die Expertinnen und Experten, die ihn beraten und sich bestens in der Welt auskennen, haben erkannt, dass die europäische Automobilindustrie ihrem Ende entgegensieht. Die hochqualifizierten Arbeitenden wie Ingenieurinnen und Ingenieure, die immer bessere Verbrennungsmotoren bauen, konnte China nicht auf die Schnelle ausbilden; aber ein Auto bauen, dessen Herzstück eine Batterie ist, das ist die ideale Lösung. Während in China fleißig an der Verbesserung von Batterien geforscht wurde, verloren die Europäer das Interesse an der Elektrochemie. Heute dominiert China den Markt für ebenjene Batterien, die wir für die staatlich propagierte Umstellung auf E-Mobilität so dringend brauchen.

Stellt sich die Frage, wie man auf das Vordringen der chinesischen Automobilindustrie in das Herzstück der europäischen Wirtschaft reagieren soll. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, man werde eine Wettbewerbsuntersuchung gegen China einleiten. Die chinesischen E-Autos würden derart massiv subventioniert, dass es weltweit und insbesondere in Europa zu einer Wettbewerbsverzerrung käme, gegen die man sich wehren müsse. In den USA spricht man davon, dass die E-Mobilität eine Frage der "nationalen Sicherheit" sei und deshalb das Vordringen Chinas in diesen Sektor verhindert werden müsse. Die langfristig angelegte Strategie der chinesischen Automobilindustrie folgt einem Drehbuch, das wir eigentlich kennen müssten.

Harter Wettbewerb

Die japanischen Schmalfilmkameras haben die wunderschönen mechanischen Meisterwerke von europäischen Herstellern wie Paillard Bolex und Nizo in den 70er-Jahren gnadenlos verdrängt und in den Ruin getrieben, weil die japanischen Hersteller rechtzeitig auf den elektrischen Antrieb statt auf den mechanischen setzten.

Japanische Autos, lange als reparaturanfällig und unsicher verlacht, gehören heute zu den meistverkauften Autos weltweit, weil die japanischen Hersteller näher an den Wünschen ihrer Kunden agierten als die eingesessenen Firmen in Europa und den USA. Auch diesem Beispiel folgen die chinesischen Hersteller. In Europa verlockt hingegen die geopolitische Situation dazu, den Hausverstand durch die Mobilisierung des Feindbilds zu ersetzen.

Die chinesischen E-Autos sind in China einem Wettbewerb ausgesetzt, den man sich kaum härter vorstellen kann. Über 200 Autofirmen versuchen sich auf dem Markt zu halten und stoßen dabei auf Kunden, die ihre Macht in diesem Spiel genau kennen. Als China von der Null-Covid-Politik plötzlich und für manche unerwartet abließ, wollte man die Wirtschaft von einem Tag auf den anderen wieder ankurbeln.

Nur machte man die Rechnung ohne den Wirt: Die chinesischen Konsumentinnen und Konsumenten konsumieren nicht, und das hieß auch: Sie kauften keine Autos. Erst nachdem die Firmen ihre Preise auf die Hälfte reduzierten, bequemten sich die chinesischen Käuferinnen und Käufer zum Autohändler. Zwar kommen in China 1,5 Ladestationen auf 1.000 Einwohner, während es in Deutschland etwa 0,53 Stationen sind, doch darf man dabei nicht vergessen, dass in China wie in den USA die Entfernungen, die im Auto zurückgelegt werden, sehr groß sind. Dass der Verbrennungsmotor vollständig durch die E-Mobilität ersetzt werden könnte, scheint unter solchen Bedingungen unmöglich.

Trotzdem gibt es gute Gründe, sich für ein E-Mobil zu entscheiden. In Schanghai muss man sich erst für viel Geld ein Nummernschild kaufen, bevor man ein Auto kaufen kann. Lange Zeit muss man auf seine Führerscheinprüfung warten. All das fällt weg oder wird kostengünstiger, wenn man ein E-Auto kauft.

Brauchen Batterien

Hinzu kommt, dass die chinesische Automobilindustrie nicht nur vermehrt nach Europa, sondern vor allem in die Schwellenländer exportiert, wo billige und kleine Autos bevorzugt werden. Durch die hohen Produktionszahlen, die auch von diesem Exportsegment getragen werden, liegen de facto die Produktionskosten für chinesische E-Automobile niedriger als in Europa.

VW, derzeit weltweit noch an dritter Stelle auf dem Weltmarkt der E-Autos, hat aus dieser Konstellation den Schluss gezogen, mit dem chinesischen Start-up XPeng ein Joint Venture einzugehen. VW war einst nach China gekommen, um die Chinesen zu lehren, was es heißt, eine Automobilindustrie aufzubauen. Jetzt lernt VW in China, wie man den E-Automobilsektor erobert.

Dieses Beispiel sollte man im Hinterkopf haben, wenn man aus geopolitischen Gründen vorschnell dem Entkoppeln das Wort redet. Während wir in Europa aufgerufen werden, auf E-Mobilität umzustellen, brauchen wir Batterien für unsere Autos, die noch für einen nicht so kurzen Zeitraum in der Zukunft überwiegend aus China kommen. So wie China im 19. Jahrhundert seine Führungsstellung aufgeben und lernen musste, was es bedeutet, eine nachholende Industrialisierung durchzuführen, stehen wir nun vor der bitteren Wahrheit, dass wir unseren Schüler in manchen Bereichen als Lehrer akzeptieren zu müssen. Manche wissen das schon, andere weniger. (Susanne Weigelin-Schwiedrzik, 23.9.2023)