245 Jahre alt und dennoch aktuell. Mit Christiane Karoline Schlegels
245 Jahre alt und dennoch aktuell. Mit Christiane Karoline Schlegels "Von einem Frauenzimmer" gelingt Regisseurin Anne Lenk ein toller Einstieg in die neue Spielzeit des Grazer Schauspielhauses.
Lex Karelly

Ein egomanischer Macho rastet aus, ermordet seine junge Geliebte und richtet sich selbst. Das ist nicht die Femizid-Meldung zum Tag, sondern der Handlungskern eines Theaterstücks, das nun 245 Jahre nach seinem Erscheinen in Dresden im Schauspielhaus Graz uraufgeführt worden ist. Düval und Charmille, ein bürgerlich Trauerspiel in fünf Aufzügen. Von einem Frauenzimmer wurde so restlos aus dem Kanon getilgt, dass es 2023 nicht einmal als Reclamheft erhältlich ist – immerhin digital.

Christiane Karoline Schlegels (1739–1833) Stück war inspiriert von einer 1777 in Dresden verübten Bluttat. Prompt erschien es ein Jahr später in Leipzig, aber noch zu Lebzeiten der Autorin verschwand es wieder in der Versenkung. Es war "für ein Frauenzimmer zu tragisch, auch zu unmoralisch".

Das Schauspielhaus Graz eröffnete nun die neue Saison mit einer verspäteten Uraufführung und der anonymen Verfasserinnenangabe als Titel; es markiert den Beginn der ersten Spielzeit der neuen Intendantin Andrea Vilter. Anne Lenk inszeniert Von einem Frauenzimmer in der stylishen blutroten Designerküche von Judith Oswald. Helllila changieren die Kostüme von Sibylle Wallum zwischen Reifrock und Jogginghose. Spannende Schattenspiele ergeben die Projektionen von Gerald Rotter.

Gattin und Geliebte

Ehefrau und Geliebte stehen einander nahe. Der jungen Amalie / Mally von Charmille (Marielle Layher) ist ihr älterer Geliebter keineswegs geheuer. "Wär’ er glücklich! Woher die Unstetigkeit, der Trübsinn, die üble Laune, die Ängstlichkeit! Wissen Sie denn nicht, was ihn quält", fragt sie ausgerechnet die Ehefrau.

Marianne Düval (souverän: Sarah Sophia Meyer) will mit einer sich entspinnenden Hofintrige gegen die Liebenden nichts zu tun haben: "Ich werde dadurch nicht glücklicher. Düval wird eine andre Maitresse finden, wie seine vorigen, boshaft, ruchlos, unverschämt." Ihre Sorge gilt der Jüngeren: "Ist es noch Zeit, Amalien zu retten ..." Mally will ein Stelldichein beenden, da ihre Pflicht als Hoffräulein rufe: "Deine Pflicht? Wenn du in meinen Armen bist", wütet Düval (charismatisch: Simon Kirsch).

Die Autorin brachte die Handlung als Echtzeitdrama von zwölf Stunden in idealtypischer Einheit von Ort, Zeit und Handlung zu Papier. Regisseurin Lenk lässt das Geschehen in konsequenter Unerbittlichkeit ablaufen. Sie bleibt eng am Originaltext von 1778. Schlegels Sprache ist schnörkellos, jeder Satz treibt Sturm-und-Drang-mäßig die Handlung voran.

Diese erinnert an Die Wahlverwandtschaften, wenngleich Goethes Roman erst 1809 erschien: die unwiderstehliche Anziehung zwischen älterem Mann und jungem Mädchen. Dessen idealisierende Überhöhung. Das Verständnis der Ehefrau. Das tragische Ende. Für die noch viel komplizierteren tödlichen Verwicklungen im Trauerspiel Stella brauchte Goethe von 1775 bis 1806. Dem Schauspielhaus Graz ist zu danken, Schlegels Beitrag zur Gattung aus der Beziehungskiste geholt zu haben.

Spannender Auftakt

Einige eingefügte frauenfeindliche Zitate von Schlegels Zeitgenossen werden dem Kind Fränzchen Düval (Anna Klimovitskaya) beim Puppenspielen in den Mund gelegt. Als Puppenspiel des Kindes vorn auf der Bühne geschehen auch Mord und Suizid, zeitgleich mit der Bluttat hinter verschlossener Tür. Ein kluger Kunstgriff. Leider vermindern ein paar unvermutet als Femizid-Opfer auftretende Statistinnen die Wirkung.

Wie insgesamt die Beschränkung auf das Femizid-Motiv das Stück einer wichtigen Facette beraubt: Auch der Egomane unterliegt gesellschaftlichen Zwängen. Düval im Gespräch mit dem Grafen von Sternfeld (elegant: Željko Marović), der ihm den Kopf waschen soll: "Ehre in eines andern Diensten zu sein? Ehre, wo man sich gebieten lassen, drohen lassen, gehorchen, mit jedem Augenblicke erwarten muss, fortgeschickt zu werden, wenn man nicht will, wie er will?"

Da bringt Schlegel neun Jahre vor Schillers Don Karlos den Marquis Posa mit seinem "Ich kann nicht Fürstendiener sein" zum Klingen. Das ist revolutionär, geht aber ein wenig unter. In Summe ist es aber eine packende Produktion. Andrea Vilter will "die erzählerischen Perspektiven des klassischen Kanons" erweitern. Von einem Frauenzimmer ist ein vielversprechender Auftakt. (Heidemarie Klabacher, 24.9.2023)