aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew.
Hat den Sieg seiner Truppen verkündet: der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew.
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Was sich dieser Tage in der von Armeniern bewohnten Region Bergkarabach nach der Kapitulation vor der aserbaidschanischen Armee abspielt, ruft den berühmten Roman von Franz Werfel Die vierzig Tage des Musa Dagh in Erinnerung. Damals beschrieb Werfel den von der Türkei bis heute bestrittenen Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Auch heute sind rund 120.000 Armenier in der Bergregion auf aserbaidschanischem Staatsgebiet schutzlos. Die Regierung Armeniens richtete einen Appell an die Vereinten Nationen, eine UN-Mission nach Bergkarabach zu entsenden.

Die Besorgnisse um die Zukunft der Armenier in der Region sind berechtigt. Eine BBC-Reporterin berichtete von tausenden auf den Straßen der Hauptstadt Stepanakert liegenden obdachlosen und hungernden Menschen. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgebrochenen Kriege um das Schicksal des historisch von Armeniern bewohnten, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Gebiets forderten in mehr als dreißig Jahren Zehntausende von Toten und erzwangen die Flucht von hunderttausenden Menschen auf beiden Seiten.

Die Kontrolle Bergkarabachs

Abgrundtiefer Hass hatte schon in den letzten Jahren (1988–1990) der zerfallenden Sowjetunion zu Pogromen gegen die Armenier in den Städten Sungait und Baku geführt. Um die Kontrolle Bergkarabachs brach sofort ein Krieg zwischen den unabhängig gewordenen früheren Sowjetrepubliken aus. Über 600.000 Aseris wurden damals von den siegreichen Armeniern vertrieben. Zwei Drittel des 1994 von der armenischen Armee eroberten Gebietes wurden aber 2020 nach einem großen Sieg des inzwischen hochgerüsteten und von der Türkei unterstützten öl- und gasreichen "Bruderstaats" im zweiten Karabachkrieg verloren. Rund 100.000 Menschen flüchteten nach Armenien. Den letzten entscheidenden Schlag hat der Diktator Aserbaidschans, Ilham Alijew, bereits seit Dezember mit der Blockade der einzigen Verbindungsstraße von Armenien nach Bergkarabach vorbereitet.

Die seit 2020 in der Region stationierten "Friedenstruppen" der nominellen Schutzmacht Russland blieben bei der Blitzoffensive der Azeris genauso untätig, wie sie es drei Jahre zuvor gewesen waren.

Außer Nordkorea wird nur Aserbaidschan seit fast einem halben Jahrhundert von einer politischen Erbfolgedynastie beherrscht. Vater Gaidar Alijew war schon seit 1969 Parteichef der Sowjetrepublik, Mitglied des Politbüros unter Breschnew und nach einer kurzen Pause Präsident des unabhängigen Staates. Seit seinem Tod 2003 führt sein Sohn Ilham den Staat und kontrolliert mit seiner Familie ganze Wirtschaftsbranchen.

Sein "Musterstaat" (so Viktor Orbán über seinen engen Freund) liegt an der 157. Stelle der Korruptionsliste von Transparency International. Dank der großen Öl-und Gasreserven kann der skrupellose Herrscher zwischen Russland und dem Westen geschickt lavieren. Bei Alijews Besuch in Berlin im März 2023 nannte Bundeskanzler Olaf Scholz Aserbaidschan im Hinblick auf die versprochene Erhöhung von Gasexporten nach Europa einen "verlässlichen Partner". Die schutzlosen Armenier in Bergkarabach sind weniger optimistisch, was die Versprechungen Alijews in Bezug auf ihre Zukunft betrifft. (Paul Lendvai, 25.9.2023)