Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor der UN-Generalversammlung.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor der UN-Generalversammlung.
AFP/TIMOTHY A. CLARY

Ein Gespenst geht um in der Weltdiplomatie, die dieser Tage am East River in New York ihr jährliches Klassentreffen veranstaltet hat. Es ist das Gespenst der Spaltung.

Die Länder des Globalen Südens, Brasilien etwa, aber auch afrikanische Staaten, stellen in der UN-Generalversammlung althergebrachte Bündnisse stärker denn je infrage. Angefacht, aber nicht verursacht von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird der Spalt zwischen Ost und West sowie Nord und Süd immer breiter. Weil sie sich mit ihren eigenen Problemen übersehen fühlen, sind sie bereit, den Westen bei seinem wunden Punkt zu treffen: dem Umgang mit autoritären Staaten wie Russland und China.

Außenminister Alexander Schallenberg verglich die Lage der Welt in seiner Rede am Donnerstag (Ortszeit) mit einem Erdbeben. Noch wisse man nicht, wo die tektonischen Platten zur Ruhe kommen werden: "Aber wir spüren instinktiv, dass die Bruchlinien am Ende tiefer und breiter sein werden."

Auffälliges Timing

Dabei ist es nicht nur der Ukrainekrieg selbst, der neue Gräben schafft. Zu welchem Chaos die neuen Seilschaften in der Weltpolitik auch abseits der großen Weltbühne führen, war jüngst handfest im Kaukasus zu beobachten, in einer Region so groß wie das Burgenland.

Zufall war es gewiss keiner, dass Aserbaidschan seinen Angriff auf Bergkarabach just am Dienstag startete, als sich die Staats- und Regierungsspitzen fast der ganzen Welt in New York zur Eröffnung der UN-Generaldebatte einfanden. Wer einen lange schwelenden Konflikt just an einem solchen Tag eskalieren lässt, will eine Botschaft senden: Seht ruhig her, dürfte diese lauten. Wir schrecken auch dann nicht vor militärischer Gewalt zurück, wenn wir damit das Hochamt der Diplomatie überschatten. Und: Eine allzu harsche oder gar gemeinsame Verurteilung durch die Weltgemeinschaft, noch dazu in New Yorker Echtzeit, haben wir nicht zu befürchten.

Dass das so ist, hängt natürlich mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Armenien und Aserbaidschan, die beiden Konfliktparteien in der Auseinandersetzung um Bergkarabach, sind – wie auch die Ukraine – ehemalige Sowjetrepubliken. Doch während Russland mit seinem seit 19 Monaten tobenden Angriffskrieg gegen die Ukraine verhindern will, dass diese politisch ihren eigenen Weg geht, ist die Gemengelage in den beiden Kaukasusrepubliken komplizierter.

Ambivalente Dynamik

Traditionell gilt Russland als Schutzmacht Armeniens. Das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan wiederum wird vom Nato-Mitglied Türkei unterstützt. Doch wer deshalb in der kürzlich wiederaufgeflammten Gewalt einen klassischen Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und "dem Westen" vermuten würde, läge gründlich daneben. Die geopolitische Dynamik scheint sogar die umgekehrte Richtung eingeschlagen zu haben.

Der autokratisch regierende türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan pflegt bekanntlich durchaus gute Beziehungen zu Kreml-Chef Wladimir Putin. Ankara beteiligt sich auch nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland, was dort freilich zu einer gewissen Beißhemmung in Sachen Türkei führt. Eine klare Parteinahme für Armenien, so befürchtet man in Moskau, könnte Erdoğan vergraulen. Und auch Aserbaidschan selbst, am Kaspischen Meer zwischen Russland und dem Iran gelegen, ist als alternative Handelsroute für den Kreml von wachsender Bedeutung.

Auf der anderen Seite hat Armenien längst angefangen, sich von der angeblichen Schutzmacht Russland enttäuscht abzuwenden. Schon Monate vor den jüngsten Angriffen hatte Aserbaidschan den Latschin-Korridor blockiert, die einzige Straßenverbindung zwischen Armenien und dem mehrheitlich von Armeniern bewohnten, völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan gehörigen Bergkarabach. Die dort stationierten russischen Friedenstruppen hätten die Route eigentlich kontrollieren – sprich offen halten – sollen, kamen ihrer Aufgabe aber nicht nach. Lebensmittel und Medikamente kamen kaum mehr nach Bergkarabach durch, auch Energie und Treibstoff wurden knapp.

Humanitäre Krise

Die humanitäre Krise hatte sich zuletzt rasant zugespitzt, Armenien fühlt sich dabei von Russland im Stich gelassen. Die Entfremdung ging inzwischen so weit, dass das Land am 11. September eine mehr als einwöchige gemeinsame Militärübung mit den USA begann – sehr zum Ärger Moskaus, versteht sich.

Das Ausmaß des Manövers war letztlich überschaubar: Armenien stellte 175 Soldaten, die USA sogar nur 85. Das Signal Richtung Moskau aber war eindeutig: In Eriwan sieht man sich nach anderen Partnern um. Und obwohl Armenien eigentlich Teil der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) ist, eines Verteidigungsbündnisses unter russischer Führung, scheut man nicht die Annäherung an die USA.

Auch wenn der Konflikt ein verhältnismäßig kleines Territorium betrifft: Die geopolitischen Verschiebungen, die er vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine nach sich zieht, sind enorm. Vielleicht schenkt man ihnen aber auch deshalb meist nicht allzu viel Beachtung, weil die Weltöffentlichkeit an dramatische Wendungen inzwischen gewöhnt ist. Wer etwa hätte vor Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 gedacht, dass Finnland und Schweden ihre militärische Blockfreiheit aufgeben und den Beitritt zur Nato beantragen würden?

Türkische Vorwürfe

Dass Finnland der nordatlantischen Verteidigungsallianz zwar mittlerweile angehört, Schweden jedoch nicht, ist übrigens wieder auf den türkischen Staatschef Erdoğan zurückzuführen. Der wirft Schweden vor, "Terroristen" Zuflucht zu bieten, und meint damit vor allem Mitglieder der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Nicht ganz unwesentlich dürfte aber auch sein, dass Erdoğan sich auf diese Art größeren außenpolitischen Spielraum behielt, seine Zustimmung zur Nato-Erweiterung an Bedingungen knüpfen kann und sich weiter als Partner für Moskau empfiehlt.

Gleichzeitig ist Russland daran interessiert, auch andere Akteure an sich zu binden – oder wenigstens näher an sich heranzuführen. Das ist einer der Gründe, warum der Kreml seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine rhetorisch gerne in einen größeren geopolitischen Zusammenhang stellt und als Kampf für eine "multipolare Welt" beschreibt. Viele sehen darin freilich eher einen Kampf für Russlands eigene imperiale Interessen. Andere aber scheinen beim Streben nach politischem und wirtschaftlichem Einfluss sehr wohl auf die vermeintlichen Vorteile einer Partnerschaft mit Russland zu setzen.

So hat etwa die Brics-Gruppe wichtiger Schwellenländer, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, erst vor einem Monat die Aufnahme neuer Mitglieder angekündigt: Saudi-Arabien, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Argentinien, Ägypten und Äthiopien sollen ab 2024 zum Klub gehören. Die Erweiterung soll dem Block mehr globales Gewicht verleihen. Sogar die Einführung einer Währung ist im Gespräch, damit Geschäfte zwischen den Brics-Ländern nicht mehr in Dollar abgewickelt werden müssen.

Überholte Feindschaften

Gleichzeitig aber bleibt offen, wie effektiv die Zusammenarbeit all dieser sehr unterschiedlichen Staaten tatsächlich sein kann, wenn deren einzige wirkliche Klammer die Abgrenzung zu den USA ist. Auch dass die traditionellen Erzfeinde Saudi-Arabien und Iran überhaupt gemeinsam in eine Organisation streben, hätte noch vor einiger Zeit für erhebliches Aufsehen gesorgt. Jetzt ist es eine Nachricht, die recht schnell wieder verpufft.

Der Krieg in der Ukraine mag nicht der "Vater aller Dinge" sein. Aber er hat die Tektonik der Weltpolitik bereits so stark verändert, dass man noch auf das eine oder andere Beben gefasst sein muss. (Florian Niederndorfer, Gerald Schubert, 23.9.2023)