Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj in New York.
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New York – Bei einem aufsehenerregenden Auftritt im Uno-Sicherheitsrat hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Machtlosigkeit der Vereinten Nationen beklagt und grundlegende Reformen gefordert. Die Uno reagiere auf Probleme mit "Rhetorik" anstatt mit "echten Lösungen", sagte Selenskyj am Mittwoch im mächtigsten Uno-Gremium in New York. Der 45-Jährige war dort erstmals seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen sein Land vor 19 Monaten persönlich vertreten.

"Die Menschheit setzt ihre Hoffnungen nicht mehr auf die Uno, wenn es um die Verteidigung der souveränen Grenzen der Nationen geht", mahnte er. Selenskyj verlangte einen Mechanismus, um Vetos im Sicherheitsrat zu überwinden. Außerdem plädierte er für eine Erweiterung des Uno-Sicherheitsrats um weitere ständige Mitglieder – wie Deutschland – und sprach sich für ein System aus, um frühzeitig auf Angriffe auf die Souveränität anderer Staaten zu reagieren.

Selenskyj plädierte bei seiner Ansprache auch für ein System, um früh auf Angriffe auf die Souveränität anderer Staaten zu reagieren. Die russische Invasion in der Ukraine habe gezeigt, welchen Nutzen ein solcher Mechanismus haben könne und welche Auswirkungen mächtige Sanktionen gegen einen Aggressor hätten – in der Phase des Aufbaus der Invasionsarmee. "Wer einen Krieg beginnen will, sollte vor seinem fatalen Fehler sehen, was genau er verlieren wird, wenn der Krieg beginnen würde", mahnte er. "Wir sollten nicht warten, bis die Aggression vorbei ist. Wir müssen jetzt handeln."

Kein öffentliches Aufeinandertreffen von Selenskyj und Lawrow

Der Uno-Sicherheitsrat traf sich am Rande der Generaldebatte der Vereinten Nationen. Bei der Sitzung sprach später auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. Er blieb Selenskyjs Rede jedoch fern und schickte zum Auftakt den russischen Uno-Botschafter Wassili Nebensja in die Runde. Selenskyj wiederum verließ kurz nach seiner eigenen Rede den Saal und war bei Lawrows Ausführungen nicht anwesend. Zu einem Showdown der beiden im Saal und zu einem ersten öffentlichen Aufeinandertreffen der beiden seit Kriegsbeginn kam es daher nicht.

US-Außenminister Antony Blinken sagte mit Blick auf Russland, es sei schwer vorstellbar, dass ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrates mehr Missachtung für die Vereinten Nationen und die von ihnen gesetzten Regeln zeige. Blinken ermahnte die Sicherheitsratsmitglieder auch, aus der bequemen Entfernung nicht aus den Augen zu verlieren, welchem Horror ukrainische Familien in dem Krieg jeden Tag ausgesetzt seien.

Scholz kritisiert Putin

Bei der Sitzung ergriff auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort. Er griff Kreml-Chef Wladimir Putin scharf an. "Der Grund dafür, dass das Leid in der Ukraine und überall auf der Welt andauert, ist erschütternd einfach: Russlands Präsident will seinen imperialistischen Plan zur Eroberung seines souveränen Nachbarn, der Ukraine, umsetzen", sagte Scholz. Er forderte Putin auf, der Aufforderung der Uno-Vollversammlung nachzukommen, seine Truppen abzuziehen und so den Krieg zu beenden. "Bis heute wurde sie nicht beantwortet. Nichts tönt heute lauter als Russlands Schweigen als Reaktion auf diesen globalen Friedensappell", sagte Scholz.

Der Schweizer Außenminister Alain Berset schlug in seiner Wortmeldung in die gleiche Kerbe. "Mit seinem Angriffskrieg missachtet Russland – ein ständiges Mitglied – die Charta massiv. Die Schweiz ruft Russland erneut auf, die Truppen abzuziehen und die Souveränität der Ukraine zu respektieren", sagte der Vertreter des derzeitigen Sicherheitsratsmitglieds. Um seine Forderung zu untermauern, hob er ein Exemplar der Uno-Charta in die Höhe.

Lawrow warf Westen Demagogie vor

Lawrow wiederum trug bei seinem Auftritt eine lange geschichtliche Abhandlung über die Entwicklungen auf der von seinem Land 2014 besetzten Krim und die darauf folgenden Verhandlungen mit dem Westen vor. Er warf dem Westen Demagogie vor. In der Rhetorik der westlichen Gegner Russlands höre man die Slogans "Invasion", "Aggression", "Annexion", aber nicht ein Wort über die Ursachen der Probleme. Dem Westen warf er vor, "selektiv" auf Normen und Prinzipien zurückzugreifen. Es sollen alle Bestimmungen der Uno-Charta angewandt werden, "nicht punktuell, sondern in vollem Umfang", so Lawrow, der keine Anstalten machte, dass sein Land diesbezüglich mit gutem Beispiel vorangehen könnte.

Seine bekannte Position bekräftigte auch China. Man wolle eine "konstruktive Rolle bei einer politischen Beilegung der Ukraine-Krise" spielen, sagte der chinesische Vize-Außenminister Ma Zhaoxu. Dafür wolle man mit allen Mitgliedern des Gremiums und mit allen anderen Beteiligten zusammenarbeiten. Friedensgespräche müssten ermöglicht werden. "Eine anhaltende und ausgeweitete Ukraine-Krise ist in niemandes Interesse."

Selenskyj saß russischem Botschafter gegenüber

Selenskyj saß bei seiner Rede in einem olivgrünen Hemd am runden Tisch im Saal des Sicherheitsrats dem russischen Botschafter gegenüber. Russland habe tausende Ukrainer getötet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht. Die Vereinten Nationen hätten das nicht verhindert. "Wir sollten erkennen, dass sich die Uno in der Frage der Aggression in einer Sackgasse befindet", beklagte er. Schuld daran sei "das Vetorecht in der Hand des Aggressors".

Nebensja hatte zuvor vergeblich versucht, die Rede zum Auftakt der Sitzung zu verhindern. Es gebe keinen Anlass, den ukrainischen Präsidenten zuerst reden zu lassen und die Sitzung in eine "One-Man-Stand-up-Show" zu verwandeln, sagte der Diplomat in einer offenkundigen Anspielung auf den ehemaligen Brotberuf Selenskyjs als Komiker. Vertreter des Aggressorstaats tun dies immer wieder in der Hoffnung, dass das die Glaubwürdigkeit des ukrainischen Präsidenten schmälere. Der albanische Regierungschef Edi Rama ließ den russischen Diplomaten als Ratsvorsitzender abblitzen und wies ihn in einem verbalen Gefecht zurecht.

Selenskyj fordert Erweiterung des Uno-Sicherheitsrats

Selenskyj nutzte seine Rede insbesondere dafür, bei den Ländern des Globalen Südens Stimmung für sein Land zu machen. Dort verfängt die Argumentation Russlands, das seinen Eroberungskrieg als Akt der Auflehnung gegen westlichen Imperialismus darzustellen versucht. So forderte Selenskyj ständige Sicherheitsratssitze für Deutschland, Lateinamerika und Afrika sowie eine stärkere Präsenz Asiens im mächtigsten Uno-Gremium. "Deutschland ist zu einem der wichtigsten globalen Garanten für Frieden und Sicherheit geworden", sagte er. "Dies ist eine Tatsache. Fakt ist auch, dass Deutschland einen Platz unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats verdient, dass Lateinamerika dort dauerhaft vertreten sein muss, ebenso wie die pazifischen Staaten."

Auch die Afrikanische Union müsse ihren Platz in dem wichtigsten Uno-Gremium haben. Asien verdiene ebenfalls eine stärkere Präsenz. "Es kann nicht als normal angesehen werden, wenn Länder wie Japan, Indien oder die islamische Welt von der ständigen Mitgliedschaft in dem Gremium ausgeschlossen bleiben." Es sei ungerecht, wenn Milliarden Menschen dort nicht repräsentiert seien.

Polen gegen ständigen Sitz für Deutschland

Polen hat sich gegen einen ständigen Sitz für Deutschland im Uno-Sicherheitsrat ausgesprochen. Ein entsprechender Vorstoß Selenskyjs sei "ziemlich seltsam" und "eine große Enttäuschung", sagte Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak am Donnerstag dem öffentlich-rechtlichen polnischen Rundfunk. Selenskyj scheine sich nicht daran zu erinnern, dass Berlin der Ukraine zu Beginn des russischen Angriffskriegs nicht zu Hilfe gekommen sei.

Dem Sicherheitsrat gehören derzeit 15 der 193 Uno-Mitgliedsstaaten an. Fünf Atommächte sind ständig dabei und haben Vetorecht bei allen Entscheidungen: die USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich. Einige der anderen 188 Mitgliedsstaaten wechseln sich auf den verbleibenden zehn Sitzen alle zwei Jahre ab. Derzeit wird auf diplomatischer Ebene intensiv über eine Reform des Gremiums verhandelt, wobei der österreichische Uno-Botschafter Alexander Marschik einer der beiden Chefverhandler ist. Österreich fordert ebenfalls eine Erweiterung des Gremiums um Staaten des Globalen Südens. (APA, 21.9.2023)