Demokratie, sagte einst der britische Premierminister Winston Churchill, sei die schlechteste aller Staatsformen – mit Ausnahme aller anderen. Folgt man dem Wiener Menschenrechtsexperten Manfred Nowak, verhält es sich mit der Organisation der Vereinten Nationen (Uno) ganz ähnlich. Nowak hat diese von innen kennengelernt. Von 2004 bis 2010 war er Sonderberichterstatter über Folter. Als Friedensinstrument funktioniere die Uno inzwischen aber nur leidlich, gibt er zu. Bloß: "Wir haben aber einfach nichts Besseres."

UN-Generalsekretär António Guterres eröffnete am Dienstag die 78. UN-Generalversammlung
Uno-Generalsekretär António Guterres eröffnete am Dienstag die 78. Uno-Generalversammlung.
IMAGO/Li Rui

Die Uno steckt in der Krise. Das musste sich am Dienstag sogar ihr Chef persönlich eingestehen. In seiner Rede zur Eröffnung der 78. Generalversammlung der Uno in New York sparte Generalsekretär António Guterres nicht an Dramatik. In einer Welt, die angesichts geopolitischer Spannungen und globaler Herausforderungen zunehmend aus den Fugen gerate, gehe es für die Uno nun ans Eingemachte, nämlich "um Reformen oder das Zerbrechen".

Zukunftsgipfel geplant

Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine mit all seinen Folgen wird wieder über Sinn und Unsinn des 1945 in San Francisco gegründeten Staatenklubs diskutiert, in dem Demokratien wie Österreich ebenso eine Stimme haben wie totalitäre Staaten wie Turkmenistan oder auch das kriegsführende Russland. Rasch fallen dann Adjektive wie "zahnlos", "gelähmt" oder gar "überholt". Ganz falsch ist das nicht. Den Überfall Russlands auf sein Nachbarland konnten die Vereinten Nationen ebenso wenig verhindern wie den Irakkrieg, den die USA zwei Jahrzehnte zuvor unter zweifelhaften Umständen vom Zaun gebrochen haben. Nicht nur in studentischen Zirkeln wird nun angeregt darüber debattiert, wie der Uno neues Leben eingehaucht werden könnte. Auch Guterres selbst sieht Handlungsbedarf – und zwar dringend. In einem Jahr soll ein "Summit of the Future“, ein Zukunftsgipfel also, über die seit Jahren gewälzten, aber bisher nur spärlich umgesetzten Reformideen debattieren.

Doch sind die Vereinten Nationen, so uneins sie derzeit auch sein mögen, tatsächlich so tot, wie sie von ihren Kritikern gesagt werden? Wie zeitgemäß ist die Uno mit all ihren Gremien, Teilorganisationen, Resolutionen und Gipfeltreffen überhaupt noch? Und welche Ideen gibt es, wie es besser ginge?

Vor allem der UN-Sicherheitsrat, der aus fünf ständigen und zehn nicht ständigen Mitgliedern besteht und gemäß seiner Charta über "die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" wachen soll, steht dieser Tage in der Kritik. Weil die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, also Russland, die USA, Frankreich und Großbritannien, – mittlerweile aber auch China – per Veto jeden Entschluss blockieren können, hat das Gremium seine stabilisierende Wirkung inzwischen freilich weitgehend eingebüßt.

Schallenberg: Ehrliche Debatte über Veto

Auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der dieser Tage gemeinsam mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen der Tagung in New York beiwohnt, sieht das so. "Die Welt hat sich weiterentwickelt“, sagte er am Mittwoch vor dem Sicherheitsrat und schlug vor, einerseits mehr afrikanische Länder in das Gremium einzuladen, und andererseits eine "ehrliche Debatte" über ein mögliches Ende der Vetomöglichkeit zu führen: "Die Zeit ist lang vorbei, in der fünf Staaten die Macht hatten, für uns alle zu entscheiden". Tatsächlich haben die Vetomächte ihre fast acht Jahrzehnte alte Trumpfkarte seit Bestehen der Uno schon mehr als 250-mal ausgespielt, zuletzt allein Russland gemeinsam mit China 15-mal im Syrienkrieg.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in seiner Rede vor dem Sicherheitsrat zuvor dazu aufgerufen, dem kriegsführenden Russland sein Vetorecht zu nehmen. Die Uno sei bisher ineffektiv gewesen, aber sie sei grundsätzlich fähig dazu, "mehr zu machen". Man müsse Wege finden, um die "Macht der Uno-Charta" wiederherzustellen. Die Menschheit, sagte Selenskyj, setze nämlich keine Hoffnungen mehr in die Uno, wenn es darum geht, die Souveränität eines Landes aufrechtzuerhalten.

Doch war das jemals anders? Zuletzt habe sich die Uno militärisch Gehör verschafft, als eine Koalition unter Führung der USA Saddam Husseins Irak aus Kuwait vertrieben hatte, erinnert sich Manfred Nowak. "Da war der Sicherheitsrat nach dem Ende des Kalten Kriegs plötzlich nicht mehr blockiert", erinnert er sich. Heute sei das Gremium in seiner Zusammensetzung schlicht "outdated", wie es Nowak formuliert: "Die Sieger des Zweiten Weltkrieges können nicht unendlich lang ein Vetorecht haben", findet er.

Reformvorschläge in der Schublade

Tatsächlich geistern konkrete Ideen, wie die Vereinten Nationen reformiert werden könnten, schon seit fast zwei Jahrzehnten durch die Welt. Kofi Annan, der 1997 als erster Subsahara-Afrikaner Generalsekretär der Uno wurde, fasste sie 2005 auf 63 Seiten zusammen. Anstatt 15 sollten künftig 25 Länder im Sicherheitsrat vertreten sein, um der veränderten geopolitischen Lage Rechnung zu tragen. Bis heute ist das nicht geschehen. Den Menschenrechten, neben der Wahrung des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung immerhin einer der drei Grundpfeiler der Vereinten Nationen, sollte mithilfe eines eigenen Menschenrechtsrats mehr Gewicht verschafft werden.

2006 wurde Annans Vorschlag umgesetzt. Die geplante stärkere Stellung des Generalsekretärs lehnten die Schwellen- und Entwicklungsländer gegen die Stimmen der USA, der EU und Japans ab. Eine eigene UN-Eingreiftruppe, wie sie zudem von Teilen der Zivilgesellschaft gefordert wurde, gibt es ebenfalls bis heute nicht. "Die Uno ist schon seit 9/11 in einer schweren Krise, was auch an Leuten wie ehemals George W. Bush oder aktuell Wladimir Putin liegt, die sagen, dass sie ihre Probleme lieber bilateral lösen, wenn es sein muss eben mit militärischer Gewalt", umreißt Nowak das Dilemma, in dem sich der internationale Klub schon seit längerem befindet.

Eine Machtfrage

Warum aber kommen die Reformen, die längst bis ins Detail durchdacht und niedergeschrieben sind, so schwer vom Fleck? Albert Denk, UN-Fachmann an der Freien Universität Berlin, ortet dahinter ganz banale Interessenpolitik: "Die zentral notwendige Reform mit Blick auf grenzüberschreitende Globalphänomene liegt darin, die Vereinten Nationen zu einer globalen Instanz zu machen. Dies liegt nicht im Interesse der 193 Regierungen, die dadurch an Macht verlieren würden." Seine Diagnose geht aber noch weiter: "Den Vereinten Nationen fehlt es zum Eingreifen an Handlungsmacht, sodass ihnen nur die Rolle einer Chronistin bleibt."

Auch Außenminister Schallenberg findet, dass sich die Risse in der multipolaren Welt nicht wegdiskutieren ließen. Nicht zuletzt der Ukrainekrieg und die – auch in New York geäußerten – unterschiedlichen Sichtweisen darauf hätten diese noch verstärkt. Während der Krieg bei westlichen Politikern ganz oben auf der Agenda steht, fühlen sich viele Länder des Globalen Südens in ihren Bedürfnissen vom Westen zu wenig ernstgenommen. Die da oben gegen die da unten, so lautet oftmals die Gleichung, auch wenn in der Theorie jedes Land eine Stimme hat – und diese von Rechts wegen eigentlich gleich viel wert ist.

Der UN-Experte Richard Gowen von der New Yorker Denkfabrik International Crisis Group führt dies im Gespräch mit österreichischen Journalisten darauf zurück, dass viele der oft schuldengeplagten Länder im Süden die von den westlichen Industriestaaten erhoffte Neuaufstellung des Sicherheitsrats schlicht weniger betrifft als eine Reform von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die freilich ebenso wenig voranschreitet. Immerhin, sagt Gowan, sei der Sicherheitsrat aber trotz des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in anderen Bereichen durchaus funktionsfähig, etwa im Sudan oder in Afghanistan. "Das zeigt, dass es in diesen Forum noch immer Raum für Kompromisse zwischen den USA und Russland gibt."

Nicht alles ist schlecht

Seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive und dem Aufstand des inzwischen verstorbenen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin beobachtet er aber eine neuerliche Verhärtung der Haltung Moskaus. Die Suche nach Kompromissen, in der Diplomatie oft ein Bohren dicker Bretter, wird dadurch nicht einfacher. Den UN-Blauhelmmissionen, aktuell etwa in Mali und im Osten der Demokratischen Republik Kongo, fehle es zudem vielfach schlicht an einem ausreichenden politisch-militärischen Mandat, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Der Internationale Strafgerichtshof – auch er ist ein Produkt der Uno und hat zuletzt wegen des Haftbefehls gegen Russlands Präsidenten Putin für Aufsehen gesorgt – ist für den Berliner Wissenschafter Denk hingegen ein Beispiel für eine "Errungenschaft der Vereinten Nationen, die bei aller Kritik in eine hoffnungsvolle Richtung geht."

Ist die Generalversammlung, die dieser Tage im New Yorker Uno-Hauptquartier über die Bühne geht, in Zeiten von Zoom und Skype überhaupt noch zeitgemäß? Einerseits würden dort durchaus wichtige Punkte besprochen, sagt Nowak. Andererseits gebe es schlicht kein anderes Forum, in dem die Chefinnen und Chefs von 193 Staaten zusammenkommen. Tatsächlich nutzt auch der ukrainische Präsident Selenskyj die Gelegenheit, in New York Staatschefinnen und -chefs zu treffen, denen er bei den anderen Gipfeltreffen, etwa jenen der Nato, der EU oder der G7-Staaten, nicht über den Weg laufen würde.

Ein Zeichen an Putin

"Die viel wichtigeren Gespräche finden aber ohnehin in den Couloirs statt, hinter den Kulissen, nicht unbedingt im Sitzungssaal", sagt Nowak. Immerhin könne die Generalversammlung Wladimir Putin demonstrieren, wie isoliert er wegen seines Angriffs auf die Ukraine mittlerweile ist.

Abschaffen könne man die Uno all der Kritik zum Trotz freilich ohnehin nicht, ist sich Nowak sicher. "Überlegen wir uns nur, wie die Welt aussehen würde, gäbe es keine Uno. Wir wären noch viel näher am dritten Weltkrieg." (Florian Niederndorfer aus New York, 21.9.2023)