Stepanakert/Eriwan – Seit der Militäroffensive Aserbaidschans in der Vorwoche sind nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Tass vom Mittwochabend über 53.000 ethnische Armenier – mehr als ein Drittel der Einwohner – aus der Region Bergkarabach geflohen. Aserbaidschan hatte am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Bergkarabach nach Armenien geöffnet.

Video: Exodus aus Bergkarabach hält an
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Die meisten Vertriebenen Karabach-Armenier trafen in der armenischen Stadt Goris ein, der ersten Anlaufstelle hinter der Grenze. In der 20.000-Einwohner-Stadt bildeten sich lange Schlagen vor Geschäften mit Telefonkarten. Unter den Flüchtlingen befanden sich vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen.

In Bergkarabach, das international als Teil Aserbaidschans anerkannt wird, lebten bisher knapp 120.000 ethnische Armenier, sie stellten klar die Bevölkerungsmehrheit. Seit Jahrzehnten war die Region zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. Nach einem Krieg Anfang der 90er-Jahre hatten die Armenier die Kontrolle. Nach einem weiteren Krieg 2020 hatte Aserbaidschan Teile Bergkarabachs und besetzte aserbaidschanische Gebiete zurückerobert. Armenien wirft Aserbaidschan vor, nun eine "ethnische Säuberung" zu planen, nachdem Aserbaidschan dort vergangene Woche eine großangelegte Militäroffensive gestartet hatte.

Armenier zieht mit Vieh über Straße
Bisher lebten in Bergkarabach fast 120.000 ethnische Armenier.
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Russland ließ Aserbaidschan gewähren

Nach der Militäroffensive Aserbaidschans am 19. September mussten die proarmenischen Kämpfer von Bergkarabach bereits einen Tag später eine Waffenstillstandsvereinbarung akzeptieren. Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens hatte die Aserbaidschaner bei ihrer Militäroffensive gewähren lassen. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan machte Russland deshalb bittere Vorwürfe. Russland warf Armenien wiederum vor, mit seiner jüngsten Hinwendung zum Westen einen "großen Fehler" zu begehen.

Am Dienstag kamen Vertreter Armeniens und Aserbaidschans auf Initiative der EU in Brüssel zusammen. Die Gespräche zwischen den nationalen Sicherheitsberatern der verfeindeten Länder im Beisein von Vertretern der EU-Schwergewichte Frankreich und Deutschland standen unter der Schirmherrschaft von EU-Ratspräsident Charles Michel.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte am Mittwoch Aserbaidschan auf, internationale Beobachter in die Region Bergkarabach zu lassen. "Es wäre ein Vertrauensbeweis, dass es Aserbaidschan mit seinen Zusagen für die Sicherheit und das Wohl der Menschen in Bergkarabach ernst meint, wenn es internationale Beobachter zuließe", erklärte Baerbock.

Flüchtlinge aus Bergkarabach steigen aus Lastwagen
Die meisten vertriebenen Karabach-Armenier flohen in die armenische Stadt Goris.
IMAGO/Alexander Patrin

213 Tote auf armenischer Seite

US-Außenminister Antony Blinken hatte den autokratischen Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew, in einem Telefonat am Dienstag ebenfalls dazu aufgefordert, eine internationale Beobachtermission zuzulassen. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte im Anschluss, dass Alijew eine Mission akzeptieren würde. Blinken appellierte den Angaben zufolge an Alijew, humanitärer Hilfe ungehindert Zugang zu gewähren, die Sicherheit der Karabach-Bewohner zu gewährleisten und ihre Rechte zu schützen.

Bei der Militäroffensive Aserbaidschans wurden nach aserbaidschanischen Angaben vom Mittwoch 192 aserbaidschanische Soldaten und ein Zivilist getötet. Mehr als 500 aserbaidschanische Soldaten seien verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium. Die proarmenische Seite hatte 213 Tote der Kämpfe vermeldet. Somit wurden bei der Militäroffensive insgesamt mehr als 400 Menschen getötet. (APA, Reuters, 27.9.2023)