Flüchtlinge Bergkarabach
Die Führung der ethnischen Armenier in Bergkarabach rechnet mit einem Exodus ihrer Bevölkerung.
REUTERS/IRAKLI GEDENIDZE

New York – Vier Tage nach dem Waffenstillstand in Bergkarabach rechnet die Führung der ethnischen Armenier aus dem umstrittenen Gebiet in Aserbaidschan mit einer verstärkten Auswanderung ihrer Bevölkerung. Alle, die nach dem Militäreinsatz Aserbaidschans in der vergangenen Woche nach Armenien ausreisen wollten, könnten dies tun, teilte die Führung von Bergkarabach am Montag mit. Es gebe bereits Staus auf den Straßen, die von Bergkarabach nach Armenien führen. Denjenigen, die ausreisen wollten, werde kostenloser Treibstoff zur Verfügung gestellt, teilten die Behörden der selbsternannten Republik Arzach mit.

In der Nähe der armenischen Grenze seien hunderte Flüchtlinge aus Bergkarabach zu sehen, berichteten Reporter der Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag. In der Grenzstadt Kornidsor trafen zudem vollbeladene Zivilfahrzeuge ein. Nach Angaben der armenischen Regierung in Eriwan sind seit neun Uhr mindestens 4.850 Menschen aus Bergkarabach in Armenien angekommen.

Video: Flüchtende aus Bergkarabach erreichen Armenien
DER STANDARD

Die 120.000 Armenier in der Region wollten nicht als Teil Aserbaidschans leben, sagte David Babajan, ein Berater der selbsternannten Regierung von Bergkarabach, der Nachrichtenagentur Reuters. "99,9 Prozent ziehen es vor, unser historisches Stammland zu verlassen." Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan sagte laut Nachrichtenagentur Tass, Armenien werde alle ethnischen Landsleute aus Bergkarabach aufnehmen. Die Wahrscheinlichkeit steige, dass sie sich auf den Weg machten.

"Das Schicksal unseres armen Volkes wird als Schande für die gesamte zivilisierte Welt in die Geschichte eingehen. Diejenigen, die für unser Schicksal verantwortlich sind, werden sich eines Tages vor Gott für ihre Sünden verantworten müssen", so Babajan. Armenien wirft Aserbaidschan vor, eine ethnische Säuberung in Bergkarabach zu planen.

Gespräche zwischen Erdoğan und Alijew

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew zu der Eroberung Bergkarabachs gratuliert. Der aserbaidschanischen Armee sei ein "historischer Erfolg" gelungen, sagte Erdoğan am Montag in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge. Mit der Unterstützung der Türkei leite man die regionalen Entwicklungen in die richtige Richtung, sagte Alijew.

Erdoğan und Alijew hatten im Juni erklärt, ihre Bemühungen um die Öffnung eines Landkorridors von der Türkei über Nachitschewan und Armenien bis zum Hauptterritorium Aserbaidschans zu verstärken. Der sogenannte Sangesur-Korridor ist ein langjähriges und komplexes Projekt der beiden befreundeten Staaten. Erdoğan und Alijew wollten am Nachmittag auch an der Grundsteinlegung für eine neue Erdgaspipeline zwischen der Türkei und dem angrenzenden Nachitschewan teilnehmen.

Blinken fordert Schutz von Zivilbevölkerung

Einige Fachleute befürchten, dass Aserbaidschan seinen derzeitigen Vorteil ausnutzen könnte, um Gebiete im Süden Armeniens zu erobern und so im Bezug auf den Sangesur-Korridor Fakten zu schaffen. Der türkische Präsident hatte in den vergangenen Tagen mehrmals seiner "Unterstützung" für die Armee Bakus Ausdruck verliehen.

US-Chefdiplomat Antony Blinken versicherte in seinem Telefonat mit Regierungschef Pashinjan laut Washington, dass die Vereinigten Staaten Aserbaidschan drängten, "die Zivilbevölkerung zu schützen" und "die Menschenrechte und Freiheitsgrundrechte der Bewohner von Bergkarabach zu respektieren".

Vergleich mit Völkermord in Ruanda

Bei der Uno-Generaldebatte in New York sagte der armenische Chefdiplomat Mirzojan, die Vereinten Nationen müssten unverzüglich Truppen entsenden, um die "Menschenrechts- und Sicherheitslage vor Ort zu überwachen und zu bewerten". Mirzojan zog in seiner Rede bei der Uno-Generaldebatte eine Parallele zum Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Die Vereinten Nationen hätten in dessen Folge Präventionsmechanismen geschaffen, um ein ähnliches Verbrechen zu verhindern. Heute stehe die Welt in Bergkarabach "am Rande eines weiteren Fehlschlags", sagte Mirzojan.

Der aserbaidschanische Außenminister Jeyhun Bayramov sagte in seiner Rede bei der Generaldebatte, das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan werde die Rechte der christlichen Armenier achten. Sein Land sei "entschlossen, die armenischen Einwohner der Region Karabach in Aserbaidschan wieder als gleichberechtigte Bürger zu integrieren". Sein Land sehe eine "historische Gelegenheit" für Aserbaidschan und Armenien, "gute nachbarschaftliche Beziehungen" zu schaffen.

Beschlagnahmte Panzerabwehrraketen in Bergkarabach.
IMAGO/RIA Novosti

Am Samstag hatte die aserbaidschanische Armee die begonnene Entwaffnung proarmenischer Kämpfer in Bergkarabach bestätigt. Es seien bereits "Waffen und Munition beschlagnahmt" worden, sagte Armeesprecher Anar Eywasow in der Stadt Shusha südlich der Gebietshauptstadt Stepanakert. Die aserbaidschanische Armee arbeite dabei "eng mit den russischen Friedenstruppen zusammen".

Reporter der Nachrichtenagentur AFP sahen, wie die aserbaidschanischen Truppen Stellungen vor Stepanakert kontrollierten. Die Soldaten zeigten ein Arsenal von Infanteriewaffen, darunter Scharfschützengewehre, Kalaschnikows, Panzerfäuste und Panzer, die sie nach eigenen Angaben von den proarmenischen Kräften erbeutet hatten. Zuvor hatte die russische Armee vermeldet, dass die proarmenischen Kämpfer in der umstrittenen Kaukasusregion mit der Abgabe ihrer Waffen begonnen hätten. Es seien zunächst sechs Panzer, mehr als 800 leichte Waffen sowie 5.000 Schuss Munition abgegeben worden.

Am Dienstag hatte Aserbaidschan eine großangelegte Militäroffensive in Bergkarabach gestartet. Bereits einen Tag später wurde eine Waffenstillstandsvereinbarung geschlossen. Zuvor hatten die proarmenischen Kräfte bekanntgegeben, mit Aserbaidschan über einen Rückzug ihrer Truppen aus Bergkarabach zu verhandeln. Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, in dem Gebiet leben aber überwiegend Armenier. Aserbaidschan und Armenien streiten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Enklave und führten deshalb bereits zwei Kriege, zuletzt im Jahr 2020. (APA, 25.9.2023)