Neuss, Nordrhein-Westfalen, Verkehr, Tempo 20
Tempo-20-Zone in Neuss in Nordrhein-Westfalen: Schilder wie dieses verschieben die Kräfte im Innenstadtverkehr.
IMAGO/Michael Gstettenbauer

Die verkehrspolitische Zukunft der deutschen Stadt Hannover erregt auch hierzulande Aufmerksamkeit. Die Pläne, die in der 550.000-Einwohner-Stadt in Niedersachsen gewälzt werden, klingen für österreichische Ohren eher revolutionär.

Hannovers Zentrum soll bis 2035 "nahezu autofrei sein", verkündet die grün-rote Stadtregierung. Parkplätze für Autos im öffentlichen Raum der Innenstadt sollen weitgehend wegfallen – ihr Abstellort sollen künftig Parkhäuser sein. Anrainer könnten weiterhin auf privaten Stellplätzen parken, auch Taxis und Lieferanten sollen immer noch in Hannovers City gelangen können. Was die Emotionen besonders hochgehen lässt: Geht es nach Oberbürgermeister Belit Onay von den Grünen, gilt in Hannovers Zentrum bald "möglichst überall Tempo 20 oder maximal Tempo 30".

Video: Hannover plant autofreie Innenstadt: Ziel sei es, Fußgängerinnen und Radfahrern mehr Raum zu geben, den Einzelhandel zu stärken und die Innenstadt insgesamt attraktiver zu machen, sagt Oberbürgermeister Belit Onay.
AFP

Der Stadtchef begründet das damit, dass "ein gutes Miteinander" von Fußgängern, Radfahrern und Autolenkern ermöglicht werden soll. Der Cityverkehr in Hannover solle auch mithilfe der Temporeduktion "stressfreier" werden.

Schnellere Autos, breitere Straßen

Wenn Städte ihre Zentren entschleunigen wollen, dann führten sie bisher meistens Tempo 30 ein. Auch das häufig gegen Widerstände. Die Pläne in Hannover werfen nun die Frage auf: Wird Tempo 20 in Innenstädten das neue 30? Hannover ist nicht die einzige Kommune in Deutschland, die so vorgeht. Die norddeutsche Stadt Buxtehude hat im vorigen Jahr in der Altstadt einen 20er verhängt. Auch das bayerische Fürstenfeldbruck hat einen Straßenabschnitt mit Tempo 20. Was ist davon zu halten?

"Das ist definitiv der richtige Weg", sagt Harald Frey, Verkehrsforscher an der TU Wien zum STANDARD. Er argumentiert die Entschleunigung in stark frequentierten Zonen unter anderem mit der steigenden Verkehrssicherheit, aber auch dem sinkenden Platzverbrauch für Autos. "Je geringer das Tempo, desto weniger Fläche benötigt ein Fahrzeug für die Fortbewegung. Diese Flächen kann man anderen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung stellen", sagt Frey. In Innenstädten sind das Fußgänger, Radfahrer und öffentliche Verkehrsmittel.

"Dieses Instrument ist sinnvoll dort, wo flaniert wird und man sich wohlfühlen kann", sagte auch Reinhard Koettnitz, Professor für Gestaltung von Straßenverkehrsanlagen an der TU Dresden, kürzlich dem "Spiegel". Um Innenstädte zu beleben, halte er das "für sehr sinnvoll".

Signalwirkung

Frey kann einem Tempolimit von 20 km/h aber auch abgewinnen, dass es dann für Radfahrer "viel einfacher wird, sich homogen im Verkehrsfluss zu bewegen". In anderen Worten: Bei Tempo 20 geben die Autofahrer nicht mehr die Geschwindigkeit für die anderen vor.

Die Auswirkungen von Tempo 30 im Vergleich zu Tempo 50 sind vielfach nachgewiesen – weniger Lärm, weniger Emissionen, weniger Unfälle. Die Unterschiede bei einer Senkung von 30 auf 20 km/h fallen hingegen geringer aus. Frey betont aber, wenn 20 auf einem Verkehrsschild steht, sei das vor allem "ein klares Signal an die Autofahrer: Pass auf, hier gibt es andere Verkehrsformen." Man könnte auch sagen, Tempo 20 ist ein Signal, dass ein Auto in dieser Straße vielleicht nicht das optimale Verkehrsmittel ist.

Petersplatz, Begegnungszone, Wien
Ulli Sima bezeichnet den Petersplatz als "Vorboten für eine verkehrsberuhigte City". Seit knapp einem Jahr erstreckt sich rund um die barocke Peterskirche eine Begegnungszone.
Stefanie Rachbauer

In Deutschland sieht die Straßenverkehrsordnung (StVO) den sogenannten verkehrsberuhigten Geschäftsbereich vor, um eine Tempo-20-Zone einrichten zu können. In Österreich kennt man Tempo 20 vor allem von den Begegnungszonen. Was planen Wien, Graz und Linz zur Verkehrsberuhigung, und wie halten sie es mit Tempo 20?

Österreichs Zentren entschleunigen

Von Deutschland lernen

Verkehrsforscher Frey hielte Tempo-20-Bereiche auch jenseits des österreichischen Modells der Begegnungszonen für sinnvoll. "Tempo 20 auch unabhängig von Begegnungszonen in den Städten zu etablieren halte ich für ein wichtiges Thema. Da können wir von deutschen Städten auch etwas lernen", sagt er.

Dass Schilder mit Tempo 20 ein weitläufiges Phänomen in Innenstädten und Ortszentren werden, glaubt auch Befürworter Frey nicht. In Deutschland können Kommunen die verkehrsberuhigten Geschäftsbereiche, wo beispielsweise Tempo 20 möglich ist, nur bei hohem Fußgängeraufkommen und einer sogenannten Aufenthaltsfunktion einrichten. Der Anwendungsbereich sei damit räumlich deutlich enger als für die Tempo-30-Zonen, schreibt das deutsche Umweltbundesamt. "Tempo-20-Zonen in Deutschland und Begegnungszonen in Österreich gibt es logischerweise jeweils viel weniger als Tempo-30-Zonen", sagt Frey. Auch hierzulande würde man neue Begegnungszonen vor allem mit einer hohen Fußgängerfrequenz begründen. (Lukas Kapeller, 29.9.2023)