TIefseekreatur
2018 veröffentlichte der Unterwasserfotograf Ryo Minemizu dieses Foto einer unbekannten Tiefseekreatur und brachte etliche Expertinnen und Experten zum Grübeln.
Ryo Minemizu

Vor fünf Jahren postete ein japanischer Unterwasserfotograf namens Ryo Minemizu Fotos eines seltsamen Lebewesens, das ihm in der Tiefsee vor der Insel Okinawa vor die Linse geriet. Das Ding, nicht viel größer als eine Erbse, war weder ein Wurm noch ein Weichtier noch ein Krustentier. Aber was war es dann? Interessierte Fachleute rund um die Welt standen vor einem Rätsel.

Einer, der sich besonders für das unbekannte Lebewesen interessierte, war Igor Adameyko. Der aus Russland stammende Entwicklungsneurobiologe an der Med-Uni Wien kommt zwar nicht im engeren Sinn aus dem Fach. Aber eine seiner Leidenschaften gilt der Meeresbiologie. So betreibt er unter anderem einen beeindruckenden Instagram-Kanal, der vor allem Aufnahmen von Meereszooplankton gewidmet ist und fast 120.000 Follower hat.

Nach mehreren Jahren konnte er nun das Rätsel lösen. Die Ergebnisse der Recherchen von Adameyko und seinem Team sind seit kurzem im Fachblatt "Current Biology" nachzulesen. Wie er dem Geheimnis auf die Spur kam, hat kurz darauf ein Reporter von "Science" rekonstruiert.

Schlangenhaare auf "Medusa"

Zunächst fragte Adameyko beim japanischen Fotografen vorsichtig an, ob er ein Exemplar von der Kreatur hätte, und wenn ja, ob er sie mit ihm teilen könne. Kurze Zeit später traf ein Paket im Karolinska-Institut in Stockholm ein, wo Adameyko ebenfalls forscht. Darin befand sich ein Fläschchen mit dem seltsamen kleinen Lebewesen, das vom Forscher gleich einmal seziert wurde. Dabei stieß er auf wellenförmige äußere Teile, die Minemizus Aufnahmen zeigten und die das seltsame Wesen im Wasser antrieben.

Tiefseekreatur
Ein im Labor von Adameyko angefertigtes Foto des erbsengroßen Lebewesens mit den weißen "Matrosen".
Adameyko Lab

An der flachen Seite waren diese wellenförmigen Teile an einer braunen Halbkugel befestigt und sahen aus wie "Schlangenhaare auf dem Kopf der Gorgone", berichten Adameyko und seine Kollegen in "Current Biology". Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass es sich nicht um ein einziges Lebewesen handelte, sondern um viele einzelne Organismen, die jeweils nur wenige Millimeter lang waren. Insgesamt gab es 20 von ihnen, die Adameyko "Matrosen" nennt.

Die Halbkugel, an der sie hingen, war sogar noch merkwürdiger. Es handelte sich im Wesentlichen um einen Klumpen aus Hunderten von spermaförmigen Organismen mit Köpfen von der Größe einer Bleistiftspitze und Schwänzen, die viel dünner waren als ein menschliches Haar. Die Schwänze waren in der Mitte zu einem Knoten verbunden, und die Köpfe zeigten alle nach außen.

Larve Tiefsee
Detailaufnahme der Larven im Zentrum des seltsamen Wesens.
Adameyko Lab

"Absolut unfassbar"

Damit konnte Adameyko die Identität des bizarren Konglomerats aber immer noch nicht klären. Auch andere konsultierte Fachleute konnten nicht weiterhelfen. Es sei "absolut unfassbar" gewesen, sagte Adameyko gegenüber "Science". Schließlich versuchte er, die Organismen mit verschiedenen Antikörpern zu färben, um ihre innere Anatomie besser zu erkennen. Das half ein wenig. Das Muster der Zellen im Nervensystem deutete darauf hin, dass die Tiere zur großen Gruppe der Lophotrochozoen gehören, die Weichtiere, korallenähnliche Tiere, sogenannte Bryozoen, Brachiopoden und Plattwürmer umfassen.

Zu diesem Zeitpunkt vermuteten Darya Krupenko und Aleksei Miroliubov, Fachleute für Wirbellose an der Universität Sankt Petersburg und Ko-Autoren des neuen Artitels in "Current Biology", dass es sich bei diesem rätselhaften Konglomerat um einen Parasiten handeln könnte. Im nächsten Schritt machten die Forschenden DNA-Sequenzierungen, die tatsächlich offenbarten, dass er mysteriöse Schwimmer einer Gruppe von parasitären Plattwürmern gehört, der Unterklasse Digenea.

Parasit in Wirbeltieren

Die wiederum sind Teil einer großen und vielfältigen Gruppe von Parasiten, die als Trematoden bekannt sind. Die erwachsenen Tiere leben im Inneren eines Wirbeltiers – eines Fischs, einer Katze oder eines Menschen – und geben dann ihre Eier an die Umwelt ab. Einige Egel haben ein Verhalten entwickelt, bei dem sich die Larven zu Formen zusammenschließen, die kleine Organismen imitieren. Auf diese Weise locken sie einen Fisch an, worauf dieser die Larven frisst, damit sie ihren Lebenszyklus im Wirt fortsetzen können.

Das Interessante an diesem neuen Digenea-Parasiten ist, dass die Larven mit zwei verschiedenen Formen zusammenarbeiten. Die DNA bestätigte, dass sowohl die "Matrosen" als auch die winzigen Passagiere im Inneren der Halbkugel zur selben Art gehören. Diese Passagiere scheinen als Infektionserreger zu fungieren und darauf zu warten, in die Kiemen oder Därme eines Fisches einzudringen, der sie verschluckt. Die Matrosen hingegen leisten die harte Arbeit, den Blob durch das Wasser zu bewegen, opfern dafür aber ihre eigenen Fortpflanzungsmöglichkeiten, was in der Evolutionsbiologie als Verwandtenselektion bezeichnet wird.

Die Entdeckung deutet auch darauf hin, dass die weitere Welt der digeneischen Trematoden noch seltsamer sein könnte als gedacht. Mehr als 20.000 Arten wurden als erwachsene Würmer entdeckt, die in Wirbeltieren leben. Auch Adameyko möchte noch mehr über den seltsamen Medusenkopf herausfinden – unter anderem, wie die einzelnen Larven kooperieren und gemeinsam die Bewegung der Kolonie kontrollieren. Was als eines seiner "nächtlichen Wissenschaftsprojekte" begann, wird es wohl noch einige Zeit bleiben. (tasch, 28.9.2023)