Pinguinküken auf Felsen in der Antarktis.
Pinguinküken als Opfer der Erwärmung des Südpolarmeeres.
AFP/SARAH DAWALIBI

Lange Zeit galt die Antarktika als relativ stabil – vor allem im Vergleich mit ihrem Gegenstück, dem Nordpol, der unter den erhöhten Temperaturen des Klimawandels wie ein Eiswürfel in warmem Wasser wegschmilzt. Doch inzwischen gehört auch die Stabilität des Südpols der Vergangenheit an: Das ökologische Gleichgewicht des fünftgrößten Kontinents der Welt gerät zunehmend ins Wanken.

Die Eisfläche auf dem Südpolarmeer ist auf einem Tiefstand seit Beginn der Aufzeichnungen vor 44 Jahren angelangt; die Südlichen Glattwale müssen ihre Gepflogenheiten ob des Mangels ihres Hauptnahrungsmittels, Krill genannte Leuchtkrebse, drastisch verändern; und unter den legendären Kaiserpinguinen richtete die große Schmelze im vergangenen Jahr eine Katastrophe an. Tausende Küken sollen ertrunken oder erfroren sein, weil das Eis unter ihren Füßen wegschmolz und ihr Federkleid zum Überleben im Wasser noch nicht geeignet war.

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Messbeginn vor 44 Jahren

Gegenwärtig geht in der Antarktis der Winter zu Ende – und trotzdem dehnt sich die Eisfläche auf dem Südpolarmeer nach Angaben des "National Ice and Snow Data Centers" (NISDC) der Universität des US-Staats Colorado lediglich über knapp 17 Millionen Quadratkilometer aus – so wenig wie noch nie seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979. Im bisherigen Minus-Rekordjahr 1986 war die Eisfläche noch um eine Million Quadratkilometer größer. Schon zum Ende des Südpol-Sommers im Februar wurde ein Negativrekord gemessen: Damals erstreckte sich die Eisfläche über knapp 1,8 Millionen Quadratkilometer, mehr als ein Drittel unter dem Durchschnittswert der vergangenen 44 Jahre.

Bis 2016 sah es noch so aus, als ob die Antarktika von den Folgen der Klimaerwärmung wie durch ein Wunder verschont bleiben würde. Die Eisdecke blieb stabil auf hohem Stand, bis sich Ende 2015 dann doch der Ozean plötzlich stark erwärmte. "Wir hatten schon eine Veränderung erwartet", so Caroline Holmes vom britischen Institut zur Erforschung der Antarktika (BAS): "Doch dass sich der Wandel dermaßen schnell vollziehen würde, damit hatten wir nicht gerechnet." Am dramatischsten veränderte sich das Klima in der Bellingshausensee im Westen der Antarktika: Sie taute im vergangenen Sommer vollkommen auf.

Auf die berühmtesten der Antarktika-Bewohner, die Kaiserpinguine, wirkte sich die Eisschmelze verhängnisvoll aus. Für sie gehörte die Eisdecke auf dem Bellingshausensee zu den bevorzugten Brutstätten: Dort pflegten sie sich im April zum Ende des Sommers einzufinden, zu kopulieren, ihre Eier zu legen und den Winter über auszubrüten. Schlüpfen die Küken schließlich zu Beginn des Sommers aus, braucht ihr Federkleid noch bis Dezember oder gar Jänner, um wasserdicht zu werden: Müssen sie schon vorher ins Wasser, ertrinken oder erfrieren sie.

300.000 Kaiserpinguin-Paare verschwunden

Wissenschafter des britischen Forschungsinstituts BAS mussten bei der Auswertung von Satellitenaufnahmen aus dem vergangenen Jahr feststellen, dass sich vier der fünf von ihnen untersuchten Brutstätten auf der Bellingshausensee vom Land abtrennten: Die Eisdecke schmolz weg, noch bevor die Küken schwimmtauglich waren – zehntausend Küken seien auf diese Weise umgekommen, schätzt BAS-Wissenschafter Peter Fretwell.

Wal an der Küste von Pretoria.
Walmütter fressen sich im Sommer im Südpolarmeer voll, um dann zur Geburt ihrer Kälber im Winter in die wärmeren Gewässer vor Südafrika zu migrieren.
AFP

Weil sich die Eisfläche nur unzureichend zurückgebildet habe, konnten die Pinguine auch in diesem Jahr nicht brüten, heißt es in dem Mitte August im Wissenschaftsmagazin "Communications Earth & Environment" veröffentlichten Bericht der Forschergruppe: Die Folgen für den Fortbestand der Schwimmvögel seien verheerend. Die Internationale Union für Naturschutz (IUCN) stuft die Kaiserpinguine derzeit noch lediglich als "beinahe gefährdet" ein. Wissenschafter gehen angesichts der jüngsten Entwicklungen jedoch davon aus, dass bis Ende dieses Jahrhunderts 90 Prozent der knapp 300.000 Paare von Kaiserpinguinen verschwunden sein könnten.

Auswirkungen hat die Erwärmung des Südpolarmeeres schließlich auch auf die Südlichen Glattwale, die sich von in kaltem Wasser lebenden Leuchtkrebsen, den Krillen, ernähren. Walmütter pflegen sich im Sommer im Südpolarmeer vollzufressen, um dann zur Geburt ihrer Kälber im Winter in die wärmeren Gewässer vor der südafrikanischen Küste zu migrieren. Dort wurden in den vergangenen Jahren immer weniger Glattwale gesichtet: Sie seien außerdem oft abgemagert, sagt Els Vermeulen vom Forschungsinstitut für Säugetiere der Universität Pretoria. Durchschnittlich hätten die Walmütter in den vergangenen drei Jahrzehnten ein Viertel ihres Gewichts verloren. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 29.9.2023)