Eine Gruppe Menschen fährt auf einem Boot durch Eiswasser, das Eis ist in kleine Fragmente zerbrochen
Noch könne verhindert werden, dass der Eisschild der Westantarktis auf lange Sicht für immer verschwindet, wie Fachleute berichten.
AP/Natacha Pisarenko

Kaum etwas ist für die Ewigkeit. Doch das sogenannte "ewige Eis" der Antarktis könnte sich durch die globale Erhitzung schneller zurückbilden, als es ohne den Treibhauseffekt der Fall wäre. Was den westantarktischen Eisschild angeht, sprechen Fachleute von einem möglichen Kipppunkt: Werden etwa die weiterhin steigenden CO2-Emissionen nicht gestoppt, kann das dazu führen, dass irreversible Prozesse in Gang gesetzt werden, sodass die Eismassen auf lange Sicht verschwinden werden.

Eine aktuelle Einschätzung gibt zumindest Grund für ein wenig Hoffnung. Bei den riesigen Eismassen der Westantarktis ist der Kipppunkt eines sich selbst verstärkenden, unumkehrbaren Rückgangs des Eisschilds laut den Analysen eines europäischen Forschungsteams noch nicht erreicht. In zwei zusammengehörenden Studien seien bisher "keine Anzeichen" für einen unaufhaltsamen Eisverlust in der Westantarktis gefunden worden, teilte das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) am Donnerstag mit. Dies sei "beruhigend", erklärte Ronja Reese, die am PIK und an der Northumbria University in Newcastle die eisigen Entwicklungen erforscht.

Eis bricht vom Eisschild ab
Der Eisschild wird immer instabiler.
TiPACC, Torsten Albrecht

Entwarnung gab die Klimaexpertin jedoch nicht. Die zwei Studien, die im Fachjournal "The Cryosphere" veröffentlicht wurden, zeigten auch, "dass ein unumkehrbarer Rückzug des Eisschilds in der Westantarktis bereits unter aktuellen Klimabedingungen möglich ist", führte Reese aus.

Beschleunigtes Schmelzen

Im komplexen Klimasystem der Erde gibt es eine ganze Reihe sogenannter Kipppunkte. Es handelt sich um den Übergang zwischen zwei stabilen Zuständen, an dem keine Umkehrung mehr möglich ist – man spricht vom "point of no return". Würden die Eismassen in der Antarktis unaufhaltsam abschmelzen, würde der Meeresspiegel um etliche Meter steigen.

In den vergangenen Jahren verlor die Antarktis bereits mehr und mehr Eis. Dem liegt die Erwärmung der Meere im Zuge des Klimawandels zugrunde. Das relativ warme Ozeanwasser beschleunigt laut PIK das Schmelzen unter den Eisschelfen, den schwimmenden Ausläufern des auf dem Untergrund aufliegenden Eisschilds der Westantarktis. Das Schmelzen der Eisschelfe kann den Eisverlust verstärken, indem es die Gletscher und Eisströme im Inland beschleunigt.

Mithilfe von Eisschildmodellen konnte das Forschungsteam nicht nur nach Anzeichen für einen gegenwärtigen unumkehrbaren Rückzug in den marinen Teilen des antarktischen Eisschilds suchen. Es untersuchte mithilfe von Simulationen auch, wie sich der Eisschild über 10.000 Jahre entwickeln würde, wenn die derzeitigen Klimabedingungen unverändert blieben.

TiPACCs #3: Tipping points of the Antarctic Ice Sheet
Das Video fasst die Forschungsergebnisse in englischer Sprache zusammen.
TiPACCs

Langfristiger Kollaps

Die Simulationen deuten laut PIK darauf hin, dass selbst ohne eine zusätzliche Erwärmung über das heutige Maß hinaus die Gefahr besteht, dass einige Bereiche des westantarktischen Eisschilds im Meer langfristig kollabieren. Da das Eis nur langsam auf Veränderungen reagiert, vollzieht sich laut PIK ein solcher Eisrückgang unter den gegenwärtigen Klimabedingungen "frühestens in 300 bis 500 Jahren". Ein vollständiger Zusammenbruch würde Jahrhunderte bis Jahrtausende dauern.

PIK-Expertin Ricarda Winkelmann warnte, schon die bisher eingetretene Erderwärmung könnte "ausreichen, um die Entwicklung hier vollständig aus dem Gleichgewicht zu bringen". Da die Westantarktis jedoch noch nicht destabilisiert sei, bestehe noch die Chance, "das Risiko durch ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen zumindest teilweise zu mindern".

Die Folgen der Klimakrise sind in Antarktis und Arktis mannigfaltig. Bis 2100 könnten Kaiserpinguine nahezu komplett aussterben. Das Schmelzen des arktischen Meereises dürfte zu Veränderungen in der Dynamik des Planktons führen, was für zahlreiche Arten immense Konsequenzen hätte. Die Eisschmelze trägt zu dem steigenden Meeresspiegel bei, bis 2100 gehen Fachleute von einem Anstieg um durchschnittlich 70 Zentimeter aus, der je nach Region kleiner oder wesentlich größer ausfallen kann. Auf lange Sicht könnten mehrere Meter hinzukommen. (APA, red, 8.9.2023)