Es ist eine von vielen Tragödien des Verschwindens, die sich auch in der Antarktis abzeichnen: Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten Kaiserpinguine zu 98 Prozent ausgestorben sein. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele Eier und Küken nicht überleben können: Im Jahr 2022 dürften in einer besonders betroffenen Region bei vier von fünf Kolonien keine neuen Nachkommen der Pinguine überlebt haben. Das zeigt eine aktuelle Studie des Nature-Fachmagazins "Communications Earth & Environment".
"Wir haben noch nie erlebt, dass Kaiserpinguine in solchem Umfang und in einer einzigen Saison einen derart geringen Bruterfolg haben", sagt Leitautor Peter Fretwell. Er forscht für den British Antarctic Survey (BAS), das Polarforschungsprogramm des Vereinigten Königreichs. Er untersuchte mit seinem Team fünf Kolonien oder Brutstätten, die sich an der Küste der Bellingshausensee in der Westantarktis befinden. In den Kolonien leben jeweils 630 bis 3.500 Pinguinpaare. Im Frühjahr 2022 dürfte jedoch in vier dieser Gruppen kein einziges Junges überlebt haben.
Mangel an Meereis
Bei dieser erschreckenden Entwicklung spielt das Meereis eine wichtige Rolle. Auf den küstennahen Eisflächen brüten Kaiserpinguine, und das richtige Ausmaß ist für die Küken überlebenswichtig. Gibt es zu wenig, kann es verfrüht abbrechen – und die Nachkommen ertrinken. Auch ein Zuviel wäre gefährlich, wenn der Weg zum Wasser zu weit ist und die jungen Pinguine unterwegs zur Futtersuche verhungern.
An der Bellingshausensee ist allerdings der Mangel an Meereis das große Problem. Dort verflüchtigte sich das Eis im vergangenen Jahr vor dem Dezember, der auf der Südhalbkugel den Sommer einleitet und damit die Zeit, in der Pinguinbabys flügge werden. Erst dann verlieren sie ihren Flaum und entwickeln ein wasserdichtes Federkleid. Zuvor können Jungtiere nicht schwimmen – was fatale Folgen hat, wenn sich die flugunfähigen Vögel etwa auf einer abgebrochenen Eisscholle befinden.
Auf Satellitenbildern verschwunden
"Der Verlust des Meereises in dieser Region während des antarktischen Sommers machte es sehr unwahrscheinlich, dass die abgedrifteten Küken überlebten", sagt Fretwell. Auf Satellitenbildern sahen er und sein Team, dass das Eis im Bereich der vier Kolonien schon vor dem Dezember verschwunden war: In einigen Bereichen der Bellingshausensee verschwand das Meereis im November 2022 komplett.
Weil den Küken noch das passende Gefieder fehlt, ist nach ihrem Schlüpfen auch Regen ein Risikofaktor, wenn es anschließend erneut sehr kalt wird. Dann können sie aufgrund der fehlenden Isolierung erfrieren. Ein Forschungsteam errechnete vor zwei Jahren, dass es in der Antarktis bis 2100 um 240 Prozent mehr Regen geben dürfte, wenn die globale Erhitzung weiterhin wie aktuell voranschreitet.
Schwindendes Eis
Auch das Meereis geht dadurch stark zurück. In den vergangenen 45 Jahren, seit die Eisflächen der Antarktis durch Satelliten beobachtet werden, gab es seit 2016 die vier Jahre mit der geringsten Meereisfläche. Im besonders heißen El-Niño-Jahr 2016 dürften mehr als 10.000 Kaiserpinguin-Küken ertrunken sein, eine Kolonie wurde ausgelöscht. Nun hat wieder ein El-Niño-Zyklus begonnen.
"Jetzt, im August 2023, liegt die Meereisausdehnung in der Antarktis noch immer weit unter allen bisherigen Aufzeichnungen für diese Jahreszeit", sagt Caroline Holmes, die ebenfalls am BAS forscht, aber nicht an der Studie beteiligt war.
Das große Aussterben
Zwar gibt es mehr als 60 bekannte Kaiserpinguin-Kolonien und Zahlen aus dem Jahr 2020 zufolge ungefähr 280.000 Brutpaare, die nahezu alle in der Antarktis leben. Doch ob die Vögel eine Zukunft in freier Wildbahn haben, ist ungewiss. Einer beachtlichen Studie zufolge, die 2021 veröffentlicht wurde, könnten beinahe alle Kolonien bis 2100 "quasi ausgestorben" sein. Das bedeutet, dass selbst beim Überleben weniger Mitglieder keine Chance auf den Fortbestand gegeben ist, weil sie sich langfristig nicht ausreichend vermehren können.
Die Folgen der globalen Erhitzung, die für erdgeschichtliche Verhältnisse rapide voranschreitet, drängen freilich nicht nur Kaiserpinguine an den Rand der Eiskante beziehungsweise des Aussterbens. Und im Rahmen der Biodiversitätskrise ist die Klimakrise nur die Spitze des Eisbergs, um bei passenden Sprachbildern zu bleiben: Umweltverschmutzung und das unnachhaltige Management von Wäldern und landwirtschaftlichen Feldern tragen ebenfalls dazu bei, dass Arten, Populationsgrößen und ihre Diversität schwinden. Das hat insbesondere für Insekten, Amphibien und Weichtiere – und alle anderen Organismen in ihren Lebensräumen, also auch für Menschen – katastrophale Folgen. (Julia Sica, 24.8.2023)