Stacheldrahtzaun eines griechischen Asylzentrums.
Die geplante Reform des EU-Asylsystems hängt an der Krisenverordnung.
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Die EU-Innenministerinnen und -minister haben sich nach Angaben aus diplomatischen Kreisen mehrheitlich auf den umstrittenen Krisenmechanismus zur Linderung der Migrationskrise geeinigt, kurz auch als Krisenverordnung bekannt. Deutschland habe der jüngsten Vorlage der amtierenden spanischen EU-Ratspräsidentschaft zugestimmt, hieß es am Donnerstag am Rande der Beratungen der Resortchefs in Brüssel weiter. Damit sei eine qualifizierte Mehrheit erreicht.

Trotz anhaltender Bedenken hatte Deutschland kurz zuvor angekündigt, der Krisenverordnung für die geplante EU-Asylreform zustimmen. "Obwohl wir noch weiteren Änderungsbedarf hätten und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer Verantwortung gerecht", sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Donnerstag in Brüssel. Deswegen werde man dem Kompromiss zustimmen. Damit ist der Weg für die EU-Asylreform frei.

Die EU-Innenminister hatten im Juni Pläne für eine umstrittene EU-Asylreform beschlossen, um die illegale Migration einzudämmen. Unter anderem sollen Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten, künftig nach einem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Darüber hinaus soll eine Krisenverordnung noch Ausnahmen für die Asylregeln für den Fall festlegen, dass sich ein Mitgliedsstaat einer besonders hohen Zahl von ankommenden Flüchtenden gegenübersieht.

Nachdem es aber die EU-Mitgliedsstaaten bisher nicht geschafft hatten, sich auf eine gemeinsame Position rund um so eine Krisenverordnung zu einigen, hat das EU-Parlament die für die Reform wichtigen Verhandlungen auf Eis gelegt. An einer Einigung in dieser Frage hängt also die Umsetzung des Asylkompromisses vom Juni.

Unklar ist nach wie vor, wie eine Krise definiert ist und welche Schritte dann unternommen werden können. Auch Österreich zeigte sich hier skeptisch. Seine Skepsis begründete Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) am Donnerstag damit, dass "wir in Teilbereichen sehen, dass es zu noch mehr Anziehung kommen könnte". Einen ähnlichen Einwand hatte es auch aus Deutschland gegeben, das nun aber bereit ist, seine Blockade aufzugeben.

Beim Treffen in Brüssel sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser schließlich zu, der Asyl-Krisenverordnung zuzustimmen.

Deutschland gibt Blockade auf

Die deutsche Regierung hatte – insbesondere wegen Kritik aus den Reihen der Grünen – ihre bisherige Ablehnung des Vorschlags für die Verordnung damit erklärt, dass es dieses Regelwerk EU-Staaten ermöglichen könnte, Schutzstandards für Migranten inakzeptabel zu senken. Denn ein Vorschlag sieht vor, dass bei einem besonders starken Anstieg der Migration der Zeitraum verlängert werden könne, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden dürfen.

"Bislang gab es noch keine Einigung der europäischen Staaten, das liegt nicht nur an Deutschland, auch Tschechien hat Probleme vorgetragen und die Niederlande. Polen und Ungarn haben sich ganz davon verabschiedet, leider", hatte die deutsche Innenministerin Faeser noch am Mittwoch gesagt. Dennoch gab sie sich schon da zuversichtlich: Sie sei "sehr optimistisch, dass wir die europäische Gesetzgebung hierzu erfolgreich abschließen werden".

Der Grund für ihre Zuversicht war wohl auch, dass sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (ebenfalls SPD) am Mittwoch in die Frage eingeschaltet und darauf gepocht hatte, dass die deutsche Ampelkoalition einer Einigung auf die geplante EU-Asylreform – und damit auch einer Krisenverordnung – nicht im Weg steht. Mit diesem Machtwort setzt er sich über die Einwände der Grünen hinweg. Aus dem von den Grünen geführten Auswärtigen Amt in Berlin hieß es dazu nur: "Jetzt wird in Brüssel endlich richtig verhandelt."

Kritik kam von den Menschenrechtsorganisationen Pro Asyl und Amnesty, die gegen die geplante Krisenverordnung sind. In einer Pro-Asyl-Mitteilung hieß es: "Dass der Bundeskanzler nun die Zustimmung erzwingt, zeigt, dass in der Bundesregierung menschenrechtliche Erwägungen nichts mehr zählen sollen."

Von der Leyen pocht auf Einigung

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zuvor zu einer zügigen Beilegung des Streits über die geplante Reform aufgerufen. Dass es eine schnelle politische Einigung brauche, zeige auch die fortgesetzte Instrumentalisierung von Migranten durch Länder wie Belarus. Es sei wichtig, gemeinsame Regeln zu haben.

Die geplante Reform des Asylsystems dürfte auch bei anstehenden Wahlen in den Mitgliedsstaaten und bei der Europawahl im kommenden Jahr eine Rolle spielen. Vor allem rechte Parteien werfen der EU seit langem Versagen im Kampf gegen illegale Migration vor.

Karner lehnt private Seenotrettung ab

Unmittelbar vor dem Treffen in Brüssel hat indes Österreich die durch Deutschland mitfinanzierten privaten Seenotrettungsmaßnahmen vor der Küste Italiens abgelehnt. "In diesem Jahr sind schon so viele Menschen im Mittelmeer ertrunken wie im gesamten Jahr 2022. Deshalb brauchen wir Festlandsicherung statt Seenotrettung", sagte Innenminister Karner der Zeitung "Welt".

Die EU-Kommission müsse dazu das Partnerschaftsabkommen mit Tunesien umsetzen und als zweiten Schritt Asylverfahren in Drittstaaten ermöglichen. Der Minister forderte, die Reform der gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik "so rasch wie möglich umzusetzen". Wie es im Innenministerium in Wien weiter hieß, unterstützt die private Seenotrettung "das kriminelle Geschäft der Schlepper", sollte stärker reglementiert und in staatliche Hände übergeben werden.

Deutschlands Unterstützung für private Seenotretter war jüngst der Tropfen, der das Fass im Migrationsstreit zwischen Berlin und Rom zum Überlaufen brachte. Laut deutscher Regierung sind aber nur vier Prozent der Migrantinnen und Migranten, die in diesem Jahr in Italien gelandet sind, von NGO-Schiffen gerettet worden. Apropos Seenotrettung: Eine der im Mittelmeer tätigen Seenotrettungsorganisationen, konkret SOS Méditerranée, wurde am Donnerstag mit dem diesjährigen Right Livelihood Awards, dem sogenannten Alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet.

Ebenfalls umstritten ist die Kooperation der EU mit Tunesien in Migrationsfragen: Im Gegenzug für die millionenschweren Finanzhilfen (127 Millionen Euro) sollen die tunesischen Sicherheitsbehörden künftig stärker gegen Schlepper und das Ablegen von Booten vorgehen. Doch das Land wird von Präsident Kais Saied zunehmend autoritär regiert. Er fällt regelmäßig mit rassistischen und antisemitischen Hasstiraden auf. Seither werden auch immer mehr Gewaltübergriffe auf Migranten gemeldet. Jüngst weigerte sich die Regierung von Saied auch, eine Gruppe von Europaabgeordneten einreisen zu lassen.

Schutzstatus für Ukrainer

Ein weiteres großes Thema bei dem Innenministertreffen ist die Ukraine. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, den vorübergehenden Schutzstatus für Vertriebene um ein Jahr zu verlängern, bis 3. März 2025. Die EU hatte im März 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, die Richtlinie aktiviert. Diesen Notfallmechanismus kann Brüssel bei einem außergewöhnlichen Massenzustrom einsetzen. Vertriebene erhalten so rasch und unbürokratisch den Schutzstatus. Der Mechanismus galt ursprünglich für ein Jahr, wurde aber bereits bis 4. März 2024 verlängert. Der Rat muss der Verlängerung zustimmen, damit sie in Kraft treten kann. NGOs fordern allerdings eine längerfristige Lösung für geflüchtete Ukrainer und Ukrainerinnen.

Obwohl es kein Punkt auf der offiziellen Tagesordnung ist, dürfte auch Schengen ein Thema werden. Der rumänische Premierminister Marcel Ciolacu hatte am Montag erneut Österreichs Veto zu einem Schengenbeitritt seines Landes kritisiert. Er fordert eine Zustimmung Österreichs bis Dezember. Auch bestehende Grenzkontrollen zwischen Schengenländern waren in den letzten Tagen immer wieder Thema. Die deutsche Innenministerin Faeser hatte Kontrollen an der polnischen und tschechischen Grenze zur Abwehr von illegalen Einreisen auf deutsches Staatsgebiet angekündigt. Österreich überwacht derzeit die Grenzen zu Ungarn und Slowenien mit Blick auf den Migrationsdruck auf die EU-Außengrenzen. Die Kontrollen müssen alle sechs Monate verlängert werden. (Flora Mory, APA, Reuters, 28.9.2023)