"Wisst ihr schon, was es wird?" Das ist eine der ersten Fragen, die werdenden Eltern gestellt werden. Gemeint ist: "Ein Mädchen oder ein Bub?" Geschlecht ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig, und zwar schon bevor ein Mensch überhaupt geboren ist. Füllen wir Formulare aus, ist stets anzukreuzen, ob wir "männlich" oder "weiblich" sind. Wenn wir Post bekommen, werden wir mit "Herr" oder "Frau" angesprochen.

Aber es gibt auch Bewegungen in die andere Richtung. Immer mehr Menschen verstehen sich nicht eindeutig als Mann oder als Frau. Oder sie identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, mit dem sie auf die Welt gekommen sind. Diese Entwicklung verändert auch die Sprache. Daher hier ein kleines Glossar: Menschen, die trans oder transgender sind, verstehen sich nicht jenem Geschlecht zugehörig, das ihnen bei ihrer Geburt zugeordnet wurde. Personen, die diese Diskrepanz nicht haben, werden als cis bezeichnet. Sind Personen nichtbinär, sind sie keinem Geschlecht zugehörig.

Mann oder Frau: Könnte das irgendwann keine Rolle mehr spielen?
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Laut Erhebungen des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research identifizieren sich rund drei Prozent der jungen Erwachsenen in den USA als nichtbinär. Als trans verstehen sich etwas weniger junge Menschen – nämlich ungefähr zwei Prozent. Für Österreich gibt es keine aktuellen Zahlen, aber auch hier dürfte es diesen Trend geben, wie einige Expertinnen und Experten meinen. So zum Beispiel die Psychologin Diana Klinger vom Wiener AKH. Sie berichtet im Interview mit dem STANDARD sogar von einem "exponentiellen Anstieg" an Nichtbinären.

Könnte es tatsächlich sein, dass die Frage "Mann oder Frau?" irgendwann keine so große Rolle mehr spielt? Das haben wir vier Personen gefragt, die sich auf unterschiedliche Art mit dem Thema auseinandersetzen. Johannes Wahala ist Psychologe bei der Beratungsstelle Courage. Dort arbeiten er und sein Team unter anderem mit Kindern und Jugendlichen, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen. Boka En wiederum ist am Referat Genderforschung der Universität Wien tätig und beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Ebene mit dem Thema. Gerlinde Mauerer ist Soziologin an der Uni Wien, sie forscht unter anderem zu sozialen Ungleichheiten, widmet sich aber auch Geschlechter- und Familienforschung. Rhonda D'Vine ist eine nichtbinäre Transfrau. Sie verwendet die Pronomen sie/ihr. Da der Begriff Frau sie "jedoch nicht vollumfassend beschreibt", verstehe sie sich als nichtbinär. Sie setzt sich im Verein Nicht-Binär, kurz Venib, dafür ein, dass Menschen ihre Geschlechtsidentität frei wählen und leben können.

"Geschlechtsidentität hat sich bereits vervielfacht"

"Ich glaube nicht, dass sich das soziale Geschlecht auflösen wird. Es wird aber diverser werden. Der berühmte Sexualforscher Magnus Hirschfeld hat bereits vor über 100 Jahren gesagt, dass es die Pole Mann und Frau zwar gibt, Geschlecht aber im gesamten Spektrum zwischen diesen beiden Polen gelebt wird. Es wird also immer Menschen geben, die sich als cis-männlich oder cis-weiblich verstehen, genauso wie es immer Menschen geben wird, die sich im Transspektrum erleben. Mittlerweile gibt es auch deutlich mehr junge Menschen, die sich keinem sozialen Geschlecht zuordnen wollen oder können, sie sind also nichtbinär oder nichtbinär more masculin oder nichtbinär more feminin. Die persönliche Geschlechtsidentität hat sich bereits vervielfältigt.

Derzeit tut sich viel in unserer Gesellschaft. Schätzungen zufolge befinden sich weltweit zwischen 0,5 und 1,5 Prozent der Menschen im Transspektrum. Das ist in den letzten Jahren mehr geworden. Ich werde oft gefragt, ob das ein Hype oder eine Modeerscheinung ist, und das ist es definitiv nicht. Transidente Menschen gibt es, seit wir Menschen erforschen können. In unserer christlich-abendländischen Kultur hatten wir aber eine strenge Binarität, sprich eine Zweiteilung der Geschlechter, daher wurden Personen im Transspektrum tabuisiert, stigmatisiert und pathologisiert.

Psychologe Johannes Wahala
Johannes Wahala sagt: "Ein Großteil der Jugend will die strenge Trennung in Mann und Frau, die dazugehörigen Geschlechtsrollen und Zuschreibungen ohnehin nicht mehr übernehmen."
Mag. Johannes Wahala

Seit Anfang vergangenen Jahres gilt Transsexualismus laut WHO nicht mehr als psychische Störung, auch das Wort wurde abgeschafft. Man spricht nun von "Genderinkongruenz". Diese kann erstens vielfältig sein, und zweitens hebt sie die strenge Zweigeschlechtlichkeit auf. Es gibt seither mehr Möglichkeiten, als nur Mann oder Frau zu sein.

Ein Großteil der Jugend will die strenge Trennung in Mann und Frau, die dazugehörigen Geschlechtsrollen und Zuschreibungen ohnehin nicht mehr übernehmen. Von daher war der Genderdiskurs längst fällig. Vor allem junge Menschen nehmen ihre individuelle Geschlechtsidentität anders wahr. Ein neues Stichwort, das wir derzeit in der Jugendbewegung haben, ist die Diversität von Männlichkeit. Rollenstereotype werden gerade von der Gen Z deutlich infrage gestellt. Es ist eine spannende Zeit. Wir erleben einen massiven gesellschaftlichen Diskurs.

Es gibt aber auch Gegenbewegungen, sogenannte Retraditionalisierungsbewegungen. Sie kommen zum Teil aus Glaubensgemeinschaften, aber auch aus gesellschaftlichen Strömungen wie dem zunehmenden Rechtsruck, den wir aktuell beobachten können. Wir erleben eine Radikalisierung, in Ungarn zum Beispiel dürfen Transpersonen keine Personenstandsänderungen, keine Vornamensänderungen und keine geschlechtsangleichenden Operationen vornehmen. In Russland ist die Hormontherapie für transgeschlechtlich empfindende Menschen verboten, zudem schwappt die Transfeindlichkeit, die die Trump-Administration ausgelöst hat, zu uns.

Es braucht noch viel Aufklärung und Bildungsarbeit, die vermisse ich noch. Wirkliche Diversität heißt, dass wir als Gesellschaft lernen, die vielfältigen Individualitäten und Identitäten zu respektieren und dass wir unsere Kinder und Jugendlichen insofern fördern, dass sie sich in ihrer Geschlechtsidentität frei entwickeln können.

Johannes Wahala ist Psychotherapeut und Sexualtherapeut und leitet Courage, eine Beratungsstelle für LGBTIQ*-Personen sowie ihren Familien.

"Die sozialen Folgen von Mutterschaft wirken als Hemmschuhe"

"Die Bedeutung von Geschlecht wird auf jeden Fall geringer werden. Es wird nicht mehr der Faktor sein, der die Welt in zwei Bereiche trennt. Vermutlich wird Geschlecht künftig auch seltener zu Diskriminierung führen. Oder zu unterschiedlichen Chancen im Leben, je nachdem ob jemand ein Mann oder eine Frau ist.

Die Zuordnung zu einem Geschlecht bringt nämlich auch einen historischen Rucksack mit, den Frauen und auch Männer tragen müssen. In den 70er-Jahren haben Mütter noch eine Unterschrift vom Vater benötigt, um mit ihren Kindern über die Grenze fahren zu dürfen. Der Partner musste auch zustimmen, wenn eine Frau arbeiten wollte. Diese Gesetze gibt es nicht mehr, und generell wird dieser Rucksack kleiner und leichter. Ich sehe eine Hoffnung, dass die Notwendigkeit einer Zuordnung zu einem Geschlecht geringer wird.

Die sozialen Folgen von biologischer Mutterschaft wirken allerdings immer noch als Hemmschuhe. Ich forsche aktuell zu familiärer Fürsorge und elterlicher Erwerbstätigkeit und habe dazu Eltern interviewt, die beide mindestens fünf Monate Karenz in Anspruch genommen haben. Also eine – wenn man so will – fortschrittliche Gruppe von Eltern. Doch selbst hier zeigen sich Unterschiede in Bezug auf die mentale Belastung, die häufig Frauen stärker betrifft. Außerdem zeigt sich, je interessanter die beruflichen Perspektiven von Frauen sind, desto geringer ist der Sog hin zu einer traditionellen Mutterschaft. Das traditionelle Bild, dass die Kinder die ersten drei Jahre bei der Mutter sind, hat sich tendenziell auf die ersten zwei oder zweieinhalb Jahre reduziert, selbst in konservativen Denkweisen. Demgegenüber werden Väter, die in Karenz gehen, noch immer als Novum gefeiert. Das sehe ich in meiner Forschung deutlich. Da bedarf es eines ständigen Dagegen-Arbeitens.

Gerlinde Mauerer sagt: "Frauen werden immer noch vor die Wahl gestellt: Entweder du hast ein Kind, dann finde dich mit der gegebenen Situation ab, oder du hast kein Kind. Vor diese Wahl oder Nichtwahl werden Väter im Normalfall nicht gestellt."
privat

Wenn die Privatisierung von Kindererziehung und folglich die Belastung im Familienleben geringer wäre, dann wäre Geschlecht im Alltag auch nicht so ein bestimmender Faktor. Wenn Mütter ihre Kinder später vom Kindergarten abholen, fallen Sätze wie: "Wenn Sie sich eh nicht um Ihr Kind kümmern wollen, warum haben Sie dann ein zweites Kind bekommen?" Frauen werden immer noch vor die Wahl gestellt: Entweder du hast ein Kind, dann finde dich mit der gegebenen Situation ab, oder du hast kein Kind. Dann freu dich des Lebens als Individuum. Vor diese Wahl oder Nichtwahl werden Väter im Normalfall nicht gestellt. Vater sein ist nach gängigen Mustern mit mehr individueller Freiheit und weniger Verantwortlichkeit für Kinder verbunden.

Das Geschlecht wird also nicht so rasch abzuschaffen sein. Dass dem Geschlecht aber eine geringere Bedeutung zukommt, dieser Idee kann ich sehr viel abgewinnen. Wobei das gerade im Privaten, im Zuhause noch dauern wird. Mädchen und junge Frauen lernen auch heute noch Verhaltensmuster, etwa sich um andere zu kümmern, und das lässt sich nicht so einfach abstellen. Burschen bleiben hier in der Erziehung meist sorgenfreier außen vor."

Gerlinde Mauerer (55) ist Soziologin an der Universität Wien und befasst sich mit Geschlechter- und Familienforschung sowie sozialen Ungleichheiten.

"Binäre Geschlechtertrennung ist eine Mär"

"Binäre Strukturen aufzulösen, sodass die Gesellschaft nicht mehr nur in die zwei Geschlechter Mann und Frau getrennt wird, klingt nach einer wunderschönen Utopie. Ich glaube aber, dass ich das nicht mehr erleben werde. Das Patriarchat und auch der Kapitalismus sind auf binärer Geschlechtertrennung aufgebaut. Das zeigt zum Beispiel der Dokumentarfilm Feminism WTF sehr gut. Darin wird herausgearbeitet, wie allein schon die Zuschreibung Frau, weibliche Berufe und auch deren Abwertung patriarchale Strukturen aufrechterhalten. Würden Unternehmen die unbezahlte Arbeit, die Frauen leisten, bezahlen müssen, würde das System nicht funktionieren. Ich fürchte, diese Strukturen aufzulösen wird noch sehr lange dauern. Nichtsdestotrotz müssen wir für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen. Denn die binäre Geschlechtertrennung ist eine Mär, in die wir hineingepresst werden.

Es gab 2019 einen Tweet mit der Frage, was Transpersonen machen würden, wenn es einen Tag lang keine Cispersonen gäbe. Der Großteil der Antworten war total banal. Die Menschen antworteten, dass sie einkaufen oder schwimmen gehen würden. Das zeigt, dass sie ihren Körper einfach zeigen und sich darin wohl fühlen wollen, ohne diese ständigen Blicke, die versuchen herauszufinden, was du bist und wo du zugehörig bist. Für mich ist es auch ein Problem, wenn ich auf eine öffentliche Toilette gehen muss. Ich stehe oft minutenlang davor und beobachte, wie viele Personen gerade drin sind, ob ich reingehen kann und sicher bin. Ich habe mir angewöhnt, wenig zu trinken, um nicht auf öffentliche Toiletten gehen zu müssen. Es sind die einfachen Dinge, die schlicht zum Alltag gehören. Cispersonen müssen sich häufig keine Gedanken machen, wie sie gelesen und wahrgenommen werden.

Rhonda D'Vine sagt: "Erst wenn wir die Unterschiedlichkeiten der Körper erkennen, sie aber nicht als prägend wahrnehmen – wie es uns vom Patriarchat aufgedrückt wird –, können uns Geschlechter egal sein."
Venib/Lisa Hörbinger

Ohne rechtliche Anerkennung von Geschlechtsidentitäten wird das Geschlecht und damit die Frage, wie Personen und deren Körper wahrgenommen werden, immer eine Rolle spielen. Erst wenn wir die Unterschiedlichkeiten der Körper erkennen, sie aber nicht als prägend wahrnehmen – wie es uns vom Patriarchat aufgedrückt wird –, können uns Geschlechter egal sein. Allein die Tatsache, dass geschlechtsnormierende Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern in Österreich noch immer nicht verboten sind, trägt zum Mythos der Binarität bei. Damit wird versucht, die Existenz intergeschlechtlicher Personen zu negieren.

Darum setzen wir uns mit dem Verein Nicht-Binär, kurz Venib, auch für einen gerechteren Zugang zu Personenstandsänderungen ein. Um den Personenstand zum Beispiel im Reisepass zu etwas anderem als weiblich oder männlich wechseln zu können, ist in Österreich eine medizinische Diagnose, die eine Intergeschlechtlichkeit nachweist, nötig. Dieses Gutachten braucht es explizit nur für die alternativen Geschlechtseinträge, nicht aber für die beiden binären. Erst dann bekommt man die Möglichkeit divers, inter, offen oder gestrichen eintragen zu lassen.

Das bedeutet aber auch, dass nichtbinäre Personen keinen anderen Personenstand bekommen können als männlich oder weiblich – und das obwohl der Verfassungsgerichtshof klargestellt hat, dass das Personenstandsgesetz das Geschlecht zu notieren, nicht aber zu bestimmen hat. Eine weitere Hürde ist, dass jedes Bundesland andere Regelungen vorgeben kann. Wir führen derzeit mit Venib mehrere Verfahren, damit alternative Geschlechter endlich problemlos eingetragen werden. Ich habe allerdings das Gefühl, dass die Gerichte die Prozesse auf die lange Bank schieben, um sich nicht festlegen zu müssen. Wir geben aber nicht auf. Wir werden so lange weitermachen, bis das System endlich geschlechtergerecht ist."

Rhonda D'Vine (50) engagiert sich im Verein Nicht-Binär für "das Menschenrecht auf ein Leben, das der eigenen Geschlechtsidentität entspricht".

"Die zentrale Position von Geschlecht könnte sich ein Stück weit ändern"

"An dem Punkt, wo wir jetzt sind, ist es schwierig, sich vorzustellen, wie es wäre, in einer Gesellschaft zu leben, die frei von Geschlecht ist. Weil derzeit Geschlecht so zentral ist. Es gibt eine ganze Reihe von Normen, wie sich Menschen, die bestimmten Geschlechtern zugeordnet werden, zu verhalten haben. Schon bei der Geburt wird gesagt 'Oh, es ist ein Mädchen!' oder 'Oh, es ist ein Bub!', und das setzt Erwartungen in Gang. Geschlechternormen sitzen tief und sind mitunter noch sehr wirksam und mächtig. Zum Beispiel, wer mit welchen Spielzeugen spielen soll oder wer sich wie anzuziehen hat – aber auch, wem welche Art des Umgangs mit Emotionen zugeschrieben wird oder von wem 'Führungsqualitäten' erwartet werden. Und gleichzeitig entsprechen viele Menschen diesen Erwartungen auf unterschiedlichste Weisen nicht.

Ich denke allerdings schon, dass sich diese zentrale Position von Geschlecht in Zukunft ein Stück weit ändern könnte. Zum Teil zeichnet sich das ja auch schon ab. Einerseits haben sich Geschlechternormen über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte gewandelt. Um die Jahrhundertwende galt Pink als Männerfarbe; das normative Bild einer Frau ist nicht mehr, sich 'nur' um Haushalt und Kinder zu kümmern; und es gibt immer mehr Bewusstsein für die Existenz von Trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen.

Andererseits leben eben Trans- oder queere Communities mitunter schon vor, wie Geschlechter nicht mehr so einfach mit Zuschreibungen verknüpft werden. Dem Gegenüber wird anders begegnet, als es in einem gesellschaftlichen Mainstream oft der Fall wäre. Nämlich ohne gleich so stark zu kategorisieren: Ist das ein Mann, oder ist das eine Frau, und was sagt mir das über die Person? Es gibt mehr Offenheit darin, wie sich Menschen kleiden und verhalten, und das wird nicht unbedingt gleich auf bestimmte Geschlechterzuordnungen zurückgeführt. Die Menschen sind auch viel zu unterschiedlich, um sie klar zuzuordnen. Es wird freier mit Geschlecht umgegangen. Davon könnten auch Menschen, die nicht Teil dieser Communities sind, sehr profitieren.

Boka En; Referat Genderforschung; Universität Wien
Boka En sagt: "An dem Punkt, wo wir jetzt sind, ist es schwierig, sich vorzustellen, wie es wäre, in einer Gesellschaft zu leben, die frei von Geschlecht ist. Weil derzeit Geschlecht so zentral ist."
privat

Ein Queer-Theoretiker, José Esteban Muñoz, hat folgende Idee: Queerness ist das, was noch nicht da ist – noch nicht be-greifbar, aber er-fühlbar. Es ist ein ständiger Weg. Dabei sind rechtliche Entwicklungen wichtig, um zum Beispiel gewissen Formen von Diskriminierung entgegenzuwirken, Gesetze allein sind aber meiner Meinung nach zu wenig. Denn auch wenn es erlaubt ist, ein weiteres Geschlecht in den Pass hineinzuschreiben: Freiheit in Bezug auf Geschlecht lässt sich nicht einfach so verordnen oder institutionalisieren. Verordnet oder institutionalisiert zu sein läuft meistens auf neue Einordnungen und Kategorisierungen hinaus. Mehr Freiheit in Bezug auf Geschlecht lässt sich demnach nicht ein für alle Mal regeln und steuern, sondern ist etwas, was sich entwickelt.

Manchmal kommt der Vorwurf, es sei alles eine einzige 'Gleichmacherei'. Aber ich bin der Meinung, dass es eben nicht darum geht, gleichzumachen. Es geht darum, mehr Geschlechtervielfalt zu ermöglichen, also weniger gleichzumachen. Natürlich kann diese Freiheit auch Angst machen, weil vieles weniger vorgegeben ist. Denn solche Richtlinien, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden, geben ja auch Sicherheit.

Kategorisierungen können ja auch den Alltag erleichtern. Am Beispiel von Treppen: Jede Stufe ist normiert, hat eine gewisse festgesetzte Höhe. Dadurch können Menschen diese Stiegen hinaufsteigen, ohne groß darüber nachzudenken, es läuft automatisiert ab. Kategorisierungen wird es also vermutlich immer geben. Aber gleichzeitig zeigt die Metapher der Treppe auch, dass mit diesen Kategorisierungen Ausschlüsse verbunden sind: Treppen verhindern, dass bestimmte Menschen Zugang zu bestimmten Orten haben.

Was es jetzt bräuchte? Wir sollten stärker im Kopf behalten, dass sich unsere Annahmen auch als ganz falsch herausstellen könnten, gerade in Bezug auf Geschlecht. Es bräuchte mehr Bewusstsein und vor allem Offenheit für Möglichkeiten, die außerhalb der klassischen Rollen liegen. Außerhalb von 'Ich bin eine Frau, deshalb muss ich mich ums Mittagessen kümmern' oder 'Du bist ein Mann, deshalb darfst du nicht weinen'. Aber auch außerhalb von 'Bei meiner Geburt wurde gesagt, dass ich ein Mann bin, deswegen bin ich ein Mann'. Und außerhalb von 'Du bist entweder ein Mann oder eine Frau'.

Zu dieser Offenheit gehört auch ein umsichtigerer oder liebevollerer Umgang mit Menschen, die nicht den Normen entsprechen. Wenn Menschen anders sind als ich selbst, wäre es wichtig, die Differenz nicht gleich abzuwerten. Und dasselbe gilt, wenn ich selbst anders bin, als andere es von mir erwarten – und vielleicht anders, als ich selbst es von mir erwarte."

Boka En (dey/dem) (35) arbeitet im Referat Genderforschung an der Universität Wien und ist Mitgründer*in der AG Inter*Trans_Nonbinary in der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung.

Erklärvideo: Er, sie, they, hen: Wie wollen Trans- und Interpersonen angesprochen werden?
DER STANDARD