Transgender-Flagge weht im Wind, gehalten von einer Frau
Wer endlich in Übereinstimmung mit seinem Geschlechtsempfinden lebt, dem fällt eine große Last von den Schultern.
Brendan McDermid / Reuters

Die zweite Pubertät begann für Valerie Lenk vor drei Jahren. Damals fing sie mit der Hormontherapie an, die ihren Körper an ihre Geschlechtsidentität anpassen sollte. "Für mich waren die Blumen bunter, die Sonne heller, es waren weniger Wolken am Himmel", erzählt sie heute von dieser Zeit und grinst. "Als hätte ich die beste Droge ever genommen." Lenk, die ihr genaues Alter nicht verrät, probierte unterschiedliche Methoden, sich die Östrogene und Testosteronblocker zuzuführen. Statt Hormonpflastern, Tabletten und Gel spritzt sie sich heute etwa alle fünf Tage typisch weibliche Geschlechtshormone unter die Haut.

Robusten Schätzungen zufolge sind etwa 0,7 Prozent der Bevölkerung trans, also in der Geschlechtsidentifikation und dem Geburtsgeschlecht nicht kongruent, und wünschen gleichzeitig eine Angleichung des Körpers durch Hormone beziehungsweise Operationen. Man spricht von Geschlechtsdysphorie: Im Gegensatz zur Euphorie ist massive Frustration die Folge dieses Nichtzusammenpassens. In Österreich gibt es keine offizielle Statistik dazu, die Zahlen dürften aber jenen aus Skandinavien und den Benelux-Staaten ähneln.

Im Vergleich zu früher trauen sich heute mehr Menschen, zu ihrer Geschlechtsidentität zu stehen. Lenk hat das Thema Transsein jahrzehntelang verdrängt, bis sie in eine tiefe persönliche Krise geriet und es nicht mehr ignorieren konnte. "Mich hat das Testosteron in meinem Körper permanent in einen Spannungszustand versetzt", sagt die gelernte Ökonomin. "Den psychischen Druck loszuwerden war für mich notwendig, um ein gesundes Leben zu führen." Für ihre Partnerschaft änderte sich dabei viel: "Meine Frau musste mich neu kennenlernen. Sie hatte einen Mann geheiratet und war plötzlich nicht mehr in einer heterosexuellen Beziehung."

Valerie Lenk und Lucas
Valerie Lenk und Lucas sind in Hormontherapie.
Fotos: Karo Pernegger; privat

Anders war die Ausgangslage bei Lucas. Er trat schon im Kindesalter als Bub auf. Wenn er sich Fremden vorstellte, nannte er einen männlichen Namen. Schwierig wurde es mit der ersten Pubertät, als er nicht mehr mit anderen Burschen in der Fußballmannschaft spielen durfte und ihm das Schwimmen oben ohne verboten wurde.

Nicht mehr kämpfen müssen

In der Folge entwickelte er eine Essstörung. "Ich wusste: Wenn man stark untergewichtig ist, prägen sich sekundäre Geschlechtsmerkmale nicht so stark aus, und man bekommt seine Tage oft nicht", erklärt der 22-jährige Psychologie- und Philosophiestudent.

Später, mit 17, erhielt Lucas zunächst Pubertätsblocker, nach wenigen Monaten folgte Testosteron. "Mit der Hormontherapie hatte ich das Gefühl: Ich muss nicht mehr dagegen ankämpfen, dass mein Körper und mein Geschlechtsempfinden nicht zusammenpassen."

Generell sind Hormonersatztherapien nicht auf Transpersonen beschränkt. Betroffen sind etwa etliche Frauen in den Wechseljahren sowie Frauen und Männer, deren Körper nicht ausreichend Geschlechtshormone produzieren – nur werden sie eben nicht mit gegengeschlechtlichen Hormonen therapiert. Pubertätsblocker wurden nicht für Transgender-Patientinnen und -Patienten entwickelt, sondern vor allem für Cisgender-Mädchen, die vorzeitig in die Pubertät kommen.

Mit diesen Blockern können aber auch junge Transpersonen Zeit gewinnen: So können sie sich psychotherapeutisch begleitet mit ihrem Umfeld darüber klarwerden, welcher Weg der beste ist, sagt der Mediziner Mick van Trotsenburg. Er gründete am Wiener AKH die erste Hormonambulanz für Transgenderpersonen in Österreich und forschte an der Vrije Universiteit Amsterdam zum Thema, heute berät er mit seinem Consultingunternehmen Genderpro etwa Regierungen und Versicherungen.

Gesundheitliche Risiken

Die Behandlungen sind aber auch mit gewissen Risiken verbunden. Pubertätsblocker, deren Auswirkungen reversibel sind, werden nur temporär eingesetzt, damit die Knochendichte nicht zu stark zurückgeht. "Kommen nach dem Absetzen Geschlechtshormone zum Einsatz, ob natürlich oder durch Hormonersatztherapie, erholt sich die Knochendichte relativ rasch", sagt van Trotsenburg. Bei der Gabe von Geschlechtshormonen spielt auch ein erhöhtes Thromboserisiko eine Rolle.

Generell habe sowohl die Behandlung als auch die Forschung seit etwa 2010 große Fortschritte gemacht: "Es gibt durch die Zunahme spezialisierter Zentren wesentlich bessere Daten und qualitativ hochwertigere Studien." Diese zeigen jedoch: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Transgenderpersonen ist signifikant niedriger als bei Cisgenderpersonen. "Grosso modo sterben Menschen, die trans sind, sechs bis sieben Jahre früher", macht der Experte deutlich. Man müsse chronischen Erkrankungen mehr Beachtung schenken sowie dem häufig ungesunden Lebensstil. Auch psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suizidalität kommen durch sogenannten Minderheitenstress öfter vor.

Das Osteoporoserisiko ist teils nicht wegen der Hormongabe erhöht: "Eine hochinteressante Studie zeigt, dass insbesondere junge Transfrauen stark gefährdet sind, die mitunter sehr viel Zeit zu Hause verbringen, weil sie noch keine Transition vorgenommen haben. Sie trauen sich oft kaum hinaus und machen keinen Sport." In 16 Prozent der Fälle hatten sie bereits im jungen Erwachsenenalter Knochendichtewerte im Bereich der Osteoporose. Das führe zu einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit für Knochenbrüche im späteren Alter. Auch hatte van Trotsenburg bereits Menschen jenseits der 75 Jahre in Behandlung, die eine Transition wünschten, also in einem Alter, in dem chronische Erkrankungen eine noch größere Rolle spielen. "Wir müssen bei Patientinnen und Patienten, die trans sind, besonders darauf achten, individuelle Risiken auszumachen und die Behandlung daran anzupassen."

Dreifache Diagnose nötig

Wer in Österreich als Transperson hormonelle oder operative Maßnahmen ergreifen will, muss offiziell Diagnosen der Genderdysphorie stellen lassen. Das erfolgt durch drei verschiedene Fachleute aus den Bereichen Psychotherapie, Psychiatrie und klinische Psychologie. Kein leichtes Prozedere für Betroffene: "Ich hatte nicht die Kraft, von Anfang an den offiziellen Weg zu gehen und meine Identität in einem entwürdigenden Prozedere vor drei fremden Menschen zu rechtfertigen", sagt Lenk. Sie begann ihre Hormontherapie in Eigenregie. Van Trotsenburg zufolge haben 60 Prozent der Transfrauen Erfahrung mit Selbstmedikation.

Lenk hält das aktuelle System für "überdenkenswert für erwachsene Menschen, unter deren Eigenverantwortung das fallen sollte". Während die medizinische Begleitung einer Hormontherapie essenziell sei, um die damit verbundenen Risiken einzugrenzen, sollte ein ausführliches aufklärendes Gespräch am Beginn der Therapie reichen, dass erwachsene Menschen die damit verbundenen Konsequenzen abschätzen können. 

Ärztliches Dilemma

Mediziner van Trotsenburg hält die österreichische Dreifachdiagnostik ebenfalls für überschießend. Eine gewisse Vorsicht sei aber gerade bei medizinischen Behandlungen, die teils irreversibel sind, richtig: "Für die Eingriffe muss ich als Arzt ja Verantwortung übernehmen. Zum Beispiel ist für die Indikation Genderdysphorie kein Medikament zugelassen, wenn wir Hormone verschreiben, geschieht das in Off-label-Anwendung."

Dabei werde auch ein Dilemma der Transgendermedizin deutlich. Während nämlich Fachleute für mentale Gesundheit die Diagnose stellen, sind es keine psychiatrischen, sondern somatische Behandlungen, die die Genderdysphorie aufheben. Endokrinologinnen, Urologen, Gynäkologen, plastische Chirurginnen und Co haben als Basis für ihre Behandlung also keine biologischen Marker, sondern müssen völlig auf diese Diagnose vertrauen und einen für sie gesund erscheinenden Körper therapieren, erklärt van Trotsenburg. "Das sorgt dafür, dass viele Ärzte zurückhaltend sind – nicht weil sie ihren Patienten kein Leben mit kongruenter Genderidentität gönnen." Problematisch sind darüber hinaus mitunter sehr lange Wartezeiten und Kosten für bestimmte Eingriffe, die nicht von Krankenkassen übernommen werden.

Realistische Erwartungen

Ein weiteres Dilemma sei insbesondere für junge Menschen die Frage von Fruchtbarkeit und Kinderwunsch. Entscheiden sie sich für eine Hormontherapie, seien sie gezwungen, sich schon früh damit auseinanderzusetzen, um gegebenenfalls Sperma oder Eizellen für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben. Es gibt auch Transmänner, die schwanger werden, wie Logan Brown derzeit auf dem Titelfoto der Zeitschrift "Glamour" zeigt. Dabei muss gegebenenfalls die Hormonbehandlung angepasst werden. "Studien zeigen, dass Jugendliche an dem Thema interessiert sind, aber nicht auf Kosten der weiteren Verzögerung eines Lebens, das mit der eigenen Identität kongruent ist." 

Auf die Transition sollten Patientinnen und Patienten gut vorbereitet werden, damit ihre Erwartungshaltung realistisch ist, findet Lucas: "Man muss sich bewusst sein, dass bei den Geschlechtsmerkmalen nicht nur Hormone eine Rolle spielen, sondern außerdem die Gene." Ihm wächst etwa kein Bart – eine Eigenschaft, die er mit seinem Bruder teilt. Geholfen haben ihm beispielsweise die Bücher von Ben Melzer und Balian Buschbaum, die von ihrer eigenen Transition erzählen. Um anderen Betroffenen bei dem lebensverändernden Prozess zu helfen, leitet Valerie Lenk Selbsthilfegruppen im Verein Trans X und engagiert sich politisch. Sie ist die Erste im Vorstand der Grünen Frauen, die trans ist. (Julia Sica, 15.6.2023)