Ein Mann trägt ein Kind.
Ethnische Armenier aus Bergkarabach versammeln sich in der Nähe des Registrierungs- und Verteilungszentrums in Goris in Armenien.
EPA/ANATOLY MALTSEV

Eriwan/Wien/Stepanakert – Nach Aserbaidschans Rückeroberung der Konfliktregion Bergkarabach im Südkaukasus haben laut den Vereinten Nationen und der armenischen Regierung bisher fast 99.000 Menschen Zuflucht in Armenien gesucht. Es handle sich um Menschen, die gezwungenermaßen ihre Heimat hätten verlassen müssen, teilte Regierungssprecherin Naseli Bagdassarjan am Freitag mit. Nach offiziellen, nicht überprüfbaren Angaben lebten zuvor 120.000 Karabach-Armenier in der Region. Nach den jüngsten Angaben der Regierung in Eriwan verließen inzwischen mehr als 80 Prozent der armenischen Bewohner von Bergkarabach die Region.

Das autoritär geführte Aserbaidschan nahm indes den früheren Verteidigungsminister der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach fest. Lewon Mnazkanjan sei gefasst geworden, als er Berg-Karabach in Richtung Armenien habe verlassen wollen, teilte der Grenzschutz der ehemaligen Sowjetrepublik am Freitag mit. Mnazkanjan, der von 2015 bis 2018 Verteidigungsminister von Berg-Karabach (Arzach) war, sei nun in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku gebracht worden. Zuvor war bereits der frühere Regierungschef der Region, Ruben Wardanjan, festgenommen worden.

Die Vertriebenen seien ängstlich und blickten sorgenvoll in die Zukunft, sagte Kavita Belani, die Vertreterin des Uno-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Armenien. Man habe mit 90.000 Flüchtlingen gerechnet, aber die Erwartungen müssten angepasst werden. Das UNHCR sei auch gerüstet, um 120.000 Menschen zu helfen.

Der Manager der Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Armenien, Hicham Diab, sagte, viele Ankömmlinge seien zu erschöpft, um über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie bräuchten psychosoziale Hilfe, um die Flucht zu verarbeiten. Beide Organisationen appellierten an die internationale Gemeinschaft, Armenien bei der Aufnahme der Geflüchteten finanziell zu helfen.

Selbstauflösung zum 1. Jänner 2024

Das autoritär regierte Aserbaidschan hatte in einer Militäroffensive in der vergangenen Woche die seit Jahrzehnten umkämpfte Region zur Gänze zurückerobert. Die Führung der international nicht anerkannten Republik Arzach (Bergkarabach) hatte danach kapituliert und in dieser Woche auch die Selbstauflösung zum 1. Jänner 2024 besiegelt. Die aserbaidschanische Regierung und auch Russland, das als Schutzmacht Armeniens gilt, hatten erklärt, dass es keinen Grund zur Flucht gebe. Allerdings befürchten die Karabach-Armenier Verfolgung und Gewalt durch Aserbaidschan.

In Eriwan warf Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan dem Nachbarland am Donnerstagabend bei einer Regierungssitzung "ethnische Säuberungen" vor. "Die Analyse der Situation zeigt, dass in den kommenden Tagen in Bergkarabach kein Armenier mehr sein wird." In der Vergangenheit hatte es zwischen den christlichen Karabach-Armeniern und den muslimischen Aserbaidschanern Konflikte gegeben.

Humanitäres Zentrum

Nach armenischen Regierungsangaben wurde in der Nähe von Bergkarabach ein humanitäres Zentrum für die Flüchtlinge eingerichtet. Die Menschen erhielten eine Unterkunft, teilte die Regierungssprecherin mit. Der Menschenrechtsbeauftragte von Bergkarabach, Gegam Stepanjan, hatte mitgeteilt, dass bei der jüngsten Militäroffensive Aserbaidschans mindestens 200 Menschen getötet und etwa 400 verletzt worden seien. Auch die aserbaidschanische Seite hatte über Verluste in den eigenen Reihen berichtet.

Nach der Explosion eines Treibstofflagers in Bergkarabach hat sich zudem die Zahl der Toten nach Angaben der örtlichen Behörden auf mindestens 170 erhöht. Das teilte die Regierung der selbsternannten Republik am Freitag mit. Zuvor waren die Behörden von 68 Toten und rund 200 Verletzten ausgegangen. Das Treibstofflager war am Montagabend explodiert. Viele Menschen hatten sich dort nach der aserbaidschanischen Militäroffensive mit Treibstoff für ihre Flucht nach Armenien eingedeckt.

Schallenberg fordert "Sicherheitszusagen" für Karabach-Armenier

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) kritisierte die aserbaidschanische Militäroffensive und forderte von Baku "Sicherheitszusagen" für die Karabach-Armenier. Mit Blick auf andere Konflikte in der Region sieht der Minister "das Potenzial für einen massiven Flächenbrand im Südkaukasus".

Zugleich kündigte er am Freitag zwei Millionen Euro Hilfe für die Karabach-Flüchtlinge aus zusätzlichen Mitteln der Austrian Development Agency an. Sie sollen den Vertriebenen über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zugutekommen. Armenien ist ein ADA-Schwerpunktland. Seit 2019 laufen 18 Projekte, manche enden heuer, andere im Jahr 2027. Dotiert sind sie mit insgesamt 38 Millionen Euro, wozu nun die genannten weiteren zwei Millionen Euro kommen. Das Außenministerium spricht von bisher 211.000 Begünstigten.

Die Region ist seit Jahrzehnten zwischen den verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. In den 1990er-Jahren konnte sich das auf aserbaidschanischem Gebiet liegende, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte Bergkarabach mithilfe Armeniens in einem blutigen Bürgerkrieg von Aserbaidschan loslösen. Dem durch Öl- und Gaseinnahmen militärisch hochgerüsteten Aserbaidschan gelang zunächst 2020 eine Rückeroberung großer Teile Bergkarabachs. Ein von Russland vermittelter Waffenstillstand erwies sich als brüchig. (APA, red, 29.9.2023)