"Es gibt Tage, die die Welt verändern": Mit diesen Worten leiten Paul Krisai und Miriam Beller ihr Buch "Russland von innen: Leben in Zeiten des Krieges" ein. Mit dem Tag meinen die beiden ORF-Mitarbeiter den 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff. Krisai und Beller berichteten für den ORF aus Moskau – unter widrigen Umständen und mit der Zensur im Nacken. In ihrem Buch schreiben sie über die unsichtbare Gefahr, die Willkür der russischen Justiz, beschreiben Schicksale und den Umgang mit ihren Emotionen. Krisai und Beller sind seit ein paar Tagen wieder in Wien.

STANDARD: Das Buch "Russland von innen" erschien vor wenigen Tagen, kurz nach Ihrer Rückkehr aus Russland. Hätte es Sie in Moskau vor Probleme gestellt?

Krisai: Es lässt sich schwer sagen, wo genau die rote Linie in Russland verläuft. Wir haben es mit sehr repressiven Gesetzen zu tun, die aber immer noch selektiv angewandt werden. Auch Kollegen haben über ihre Zeit in Russland ein Buch geschrieben. Konsequenzen sind keine sichtbar. Es ist so wie in jedem repressiven System: Man weiß nie genau, wo hingeschaut wird und wo nicht. Eine Logik ist hier nicht zu erkennen.

Miriam Beller und Paul Krisai.
Miriam Beller und Paul Krisai berichteten für den ORF aus Moskau.
© Christian Fischer

STANDARD: Das Ziel von Russlands Zensurgesetzen ist es auch, dass die Journalistinnen und Journalisten eine Art von Selbstzensur implementieren und eine Schere im Kopf haben, schreiben Sie im Buch.

Beller: Es betrifft nicht nur Medienschaffende, sondern alle Menschen in Russland. Auch wer Facebook- oder Instagram-Posts verfasst, kann unter dieser Militärzensur strafrechtlich verfolgt werden. Für uns ist das Buch auch eine Art Abschlussprojekt unserer Zeit in Russland. Das Timing hat nicht nur mit der Zensur zu tun. Wir haben uns in den letzten zwei Jahren daran gewöhnt, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Gewisse Themen konnten wir aus Russland nicht machen. Über die Kampfhandlungen in der Ukraine hat etwa die Redaktion in Wien berichtet. Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, diese Berichte nicht aus dem Aggressor-Staat zu machen, wo es nur die offizielle russische Version gibt. Und die hat entweder einen Spin, oder sie ist völlig falsch.

STANDARD: Welche Mittel oder welche Strategie hatten Sie, um mit dem Damoklesschwert der ständig drohenden Überwachung und dem psychischen Druck umzugehen?

Beller: Wir hatten über den ORF die Möglichkeit, Supervision in Anspruch zu nehmen. Wird der permanente Druck zu viel, kann man mit jemandem reden. Für mich war es wichtig, dass wir beide immer im Austausch waren und mit dem Team über alles reden konnten. Nach einer gewissen Zeit gewöhnt man sich an diese Realität. Anfangs ist man voll auf Adrenalin und im Modus Autopilot unterwegs, das war in den ersten drei Monaten des Krieges so. Man funktioniert. Danach wird es die Normalität.

Krisai: Mein Ventil war – neben dem Austausch im Team – das Radfahren. Das ist meine Leidenschaft, die habe ich etwas intensiver betrieben als sonst, um diese Balance zu finden. Obwohl man auch beim Radfahren durch Moskau mit der Kriegsrealität konfrontiert ist. Sie manifestiert sich nicht im Raketenbeschuss oder Kugelhagel, sondern in Propagandaplakaten, die vielerorts in Moskau hängen. Mit Sprüchen wie: Schreib dich zur Armee ein. Es ist unmöglich, ganz aus dieser Realität auszubrechen, obwohl diese Realitätsverweigerung weit verbreitet ist.

STANDARD: Wie äußert sich das?

Krisai: Im ersten Sommer 2022 war es schwer auszuhalten, wie die Metropole Moskau mit ihren zwölf Millionen Bewohnern diese Normalität vorgespielt hat, während wir die Nachrichten gelesen haben, was in der Ukraine passiert. Man sieht die Leute auf der Straße, die ihr Leben genießen, feiern und tanzen gehen. Das ist mit der eigentlichen Realität schwer zu vereinbaren, vor der die Leute bewusst abgeschirmt werden. Es ist viel Apathie und Desinteresse vorhanden.

STANDARD: Ist diese Apathie der Russinnen und Russen eine Folge der Propaganda und Indoktrinierung?

Beller: Diese Apathie und das Desinteresse an der Politik gibt es nicht erst seit dem Krieg. Das wurde den Menschen in Russland in den vergangenen 24 Jahren angelernt und war eine bewusste Strategie der russischen Führung, um diese Distanz zu erreichen. Die Menschen kümmern sich um ihr Privatleben, dafür werden sie von der Politik in Ruhe gelassen. Ich glaube, dass es vielen tatsächlich egal ist. Wir hören oft den Satz: Ja, was sollen wir denn tun? Das geht auf die Distanz zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung zurück. Und natürlich kommt der Faktor Angst dazu. Es gibt viele Leute, die den Krieg furchtbar finden. Sagen sie das öffentlich, kann das strafrechtliche Folgen haben. Die ältere Generation kennt das von der Sowjetunion: Wer keine Probleme will, muss das Private privat halten.

Miriam Beller und Paul Krisai. Ihr Buch
Miriam Beller und Paul Krisai. Ihr Buch "Russland von innen: Leben in Zeiten des Krieges" erschien am 25. September im Paul-Zsolnay-Verlag.
© Christian Fischer

STANDARD: Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich in der Bevölkerung breiterer Widerstand gegen das System und gegen Putin formiert?

Krisai: Das repressive System funktioniert sehr effektiv. Es gab größere Proteste zu Kriegsbeginn und im September 2022 gegen die Teilmobilmachung. Beide Male wurde jeder Widerstand im Keim erstickt. Für eine Systemänderung bräuchte es aber mehr als den Widerstand auf der Straße, nämlich einen Konflikt innerhalb der Eliten. Die Episode mit Jewgeni Prigoschin hat gezeigt, wie schnell eine Destabilisierung von innen passieren kann. Das war ein Konflikt innerhalb der Eliten und nicht zwischen Putin und Prigoschin selbst. Er hat sich nie gegen Putin gewandt, auch wenn es Putin als Verrat bezeichnet hat. Und am 23. August 2023 haben wir beim Flugzeugabsturz gesehen, wie Putin mit Verrätern umgeht.

Beller: Die Möglichkeiten einer Destabilisierung gehen derzeit wohl nicht von einer progressiven, Kreml-kritischen Schicht aus, sondern von den Hardlinern. Das sind stärkere Gruppen als die kritischen Oppositionellen. Denn die sind entweder im Gefängnis oder im Exil.

STANDARD: Und die gegen Russland verhängten Sanktionen tragen auch nicht zu einer Destabilisierung bei, sodass sich die Bevölkerung gegen die politische Elite erhebt?

Krisai: Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Leute wenden sich mehr dem Kreml und dem Regime zu, weil sie die Logik hinter den Sanktionen nicht nachvollziehen können. Die konkreten Auswirkungen sehen so aus, dass derzeit der Rubel sehr schwach ist, und dass sich die Leute weniger leisten können. Die Inflation ist hoch, auch wenn das in den offiziellen Statistiken beschönigt wird. Wie vieles andere. Wir wissen, dass das Budgetdefizit stark angewachsen ist. Die Sanktionen haben einen Anteil daran, vor allem das Ölembargo und der Ölpreisdeckel. Das lässt sich teilweise noch mit den großen Geldreserven stopfen, die Russland über Jahre angelegt hat, aber auch hier ist die Hälfte auf europäischen Konten eingefroren. Insgesamt steuert Russland auf eine wirtschaftlich zunehmend ausweglose Situation zu. Wir sehen aber keinen Kollaps der Wirtschaft. Die Sanktionen können die Kriegsmaschine nicht von heute auf morgen stoppen, sie erhöhen aber den Preis, den Russland für diesen Krieg zahlt.

STANDARD: Nur weil es McDonald's nicht mehr gibt, kommt es zu keinem Aufstand.

Beller: Der Abgang von McDonald's war nicht Teil der Sanktionen. Ausländische Unternehmen haben entschieden, Russland den Rücken zu kehren. Es ist ein Zeichen, aber die Leute gewöhnen sich daran und gehen jetzt halt zu "Vkusno i Tochka" – zu Deutsch "Lecker und Punkt" –, wie der russische McDonald's nach der Übernahme heißt.

Krisai: Die Regierung war sehr schnell, einen Ersatz zu schaffen, weil das symbolisch wichtig ist. McDonald's ist in den letzten Jahren der Sowjetunion nach Russland gekommen und war Signal für einen Aufbruch nach Westen. Jetzt sehen wir das genaue Gegenteil – Russland ist global isoliert. Dazu kommt: Die Russen sind sehr findig im Umgehen der Sanktionen. Es gibt den sogenannten Parallelimport, um Sanktionsware über Drittstaaten ins Land zu bringen. Der politische Hebel der Sanktionen ist begrenzt. Es ist aber nicht so, dass sie gar nicht wirken.

STANDARD: Wie ist es Ihnen mit den österreichischen, noch in Russland verbliebenen Unternehmen gegangen? Sie schreiben, dass es unmöglich war, jemanden vor die Kamera zu bringen. Warum?

Beller: Über die Gründe können wir nur spekulieren, warum man nicht mit uns reden wollte. Wir haben uns die Finger wund getippt und telefoniert. Da war aber eine Wand des Schweigens. Die war aber nicht nur bei österreichischen Firmen vorhanden, sondern generell bei internationalen Unternehmen.

STANDARD: Eine Wand des Schweigens hat auch Raiffeisen aufgezogen, oder?

Krisai: Solche Anfragen laufen über die Zentrale in Wien. In der russischen Abteilung kommt man immer nur bis zur Pressestelle. Ich weiß nicht, wie oft es die Kolleginnen und Kollegen in Wien versucht haben. Generell ist die Tendenz da, dass Unternehmen ein sehr geringes Interesse daran haben, der Öffentlichkeit mitzuteilen, in welchem Umfang sie noch in Russland tätig sind.

Paul Krisai, Miriam Beller,
Paul Krisai, Miriam Beller, "Russland von innen. Leben in Zeiten des Krieges". € 24,– / 192 Seiten. Zsolnay, Wien 2023 (das Buch erschien am 25. September).
Zsolnay

STANDARD: Wenn Sie auf den Beginn des Krieges zurückblicken und die Einführung der Zensurgesetze. Der ORF hat sich damals entschlossen, in Moskau zu bleiben, andere Medien sind vorübergehend gegangen. Warum?

Krisai: Das Ziel war immer, so lange aus Moskau zu berichten, wie es mit der eigenen Sicherheit und der Sicherheit des Teams vereinbar ist. Wir hatten uns im März 2022 zwischenzeitlich aufgeteilt, um einsatzfähig zu bleiben. Miriam ist für zwei, drei Wochen nach Wien und später nach Georgien gereist. Danach sind wieder alle nach Moskau zurückgekommen. Wir haben uns wie jedes andere Korrespondentenbüro vorangetastet. Es gab nie ein Geheimrezept, wie man unter so einer Zensur arbeitet. Es gab auch schon früher in Russland eine sehr eingeschränkte Pressefreiheit, aber so eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass ausländische Reporter nicht von den Repressalien betroffen sind. Das hat sich als unwahr herausgestellt, wenn wir uns die Verhaftung unseres Kollegen Evan Gershkovich vom "Wall Street Journal" im März 2023 vor Augen führen.

STANDARD: Der Vorwurf wiegt schwer. Er lautet Spionage.

Krisai: Diese fabrizierten Spionagevorwürfe zeigen, dass auch diese Linie überschritten ist und dass russische Behörden bereit sind, an einem Kollegen ein Exempel zu statuieren. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass noch ganz viele andere russische Journalistinnen und Journalisten betroffen sind. Aber es geht einem besonders nahe, wenn es jemand aus dem erweiterten Kollegenkreis ist.

STANDARD: Was macht die Verhaftung eines Kollegen mit einem?

Beller: Natürlich erschrickt man, wenn ein Kollege wegen fabrizierten Spionagevorwürfen verhaftet wird. Darauf stehen in Russland bis zu 20 Jahre Gefängnis. In den ersten Tagen ist eine Schockwelle durch die gesamte Korrespondenten-Community in Moskau gegangen, weil das so eine Zäsur, ein Tabubruch war. Es ging auch um die Art und Weise, wie man ihn verhaftet hat. Er wurde aus einem Restaurant herausgeholt. Das sind Momente, in denen man alles infrage stellt. Können wir die Sicherheit weiter gewährleisten? Können wir weiterarbeiten? Man muss sich neu kalibrieren.

STANDARD: Gab es Überlegungen, nach Gershkovichs Verhaftung Moskau zu verlassen?

Krisai: Es hat bei allen ausländischen Journalistinnen und Journalisten die Frage aufgeworfen, ob es noch einen Sinn hat, aus Russland zu berichten. Ist das Risiko vertretbar? Das Unbefriedigende ist, dass es keine letztgültige Antwort gibt. Wir wissen nicht, wie dieses System tickt und wo das nächste Mal ein Exempel statuiert wird. Ich habe Verständnis, wenn Kolleginnen und Kollegen das Land verlassen. Man sollte keine Frage der Ehre daraus machen. Wir wurden von der Sicherheitsabteilung des ORF unterstützt. Es ist viel Beinarbeit und viel Abwägung im Spiel. Als Journalist würde man sich gerne nur auf seine Beiträge konzentrieren. Es geht aber auch um die Frage, wie ich mein Team und mich sowie meine Gesprächspartner am wenigsten gefährden kann.

STANDARD: Wie?

Krisai: Konkret bedeutet es manchmal, dass man Leute zu ihrem eigenen Schutz anonym interviewt, also ohne das Gesicht zu zeigen. Es bedeutet aber auch, sich gegen die eine oder andere Dienstreise zu entscheiden, weil das Risiko nicht vertretbar ist. Es zahlt sich nicht aus, den Helden zu spielen.

Beller: Schlussendlich gibt es keine richtige oder falsche Entscheidung. Jeder hat unterschiedliche Grenzen, die er für sich selbst definieren muss. Was kann ich verantworten und was nicht? Der ORF hat uns hier jede mögliche Unterstützung gegeben.

STANDARD: Wie war die erste Liveschaltung, als klar war, dass Sie das Wort "Krieg" aufgrund der Zensurgesetze nicht in den Mund nehmen durften?

Krisai: Das war eine Herausforderung, weil man nicht wusste, wie dieses Gesetz ausgelegt wird. Es steht auch nicht konkret drinnen, dass man das Wort Krieg nicht sagen darf, es gab aber eine Anweisung der russischen Medienaufsicht, es nicht zu machen. Die russische Führung und die Staatspropaganda hat sich anfangs recht strikt daran gehalten und, immer von dieser ominösen Spezialoperation gesprochen, was natürlich eine Verharmlosung ist. Wir haben das in der Regel auch so ausgeschildert, mit der Formulierung vom "Krieg, der in Russland Spezialoperation heißen muss". Hier steht man unter einem anderen Druck als bei der Berichterstattung aus einem freien Land. Jedes einzelne Wort hat Gewicht. In der Zwischenzeit hat sich zwar an der gesetzlichen Lage nichts verändert, trotzdem sprechen selbst Regimevertreter und sogar Wladimir Putin das Wort Krieg offen aus. Eine konsequente Linie ist nicht vorhanden. Die Gesetze werden selektiv und nach Gutdünken der Behörde angewandt.

STANDARD: Was hat das für die tägliche journalistische Arbeit bedeutet? Die Akkreditierungen für Journalistinnen und Journalisten wurden etwa auf drei Monate verkürzt, um die Daumenschrauben anzusetzen.

Beller: Es war ein permanenter Papierkrieg mit den russischen Behörden. Davor wurden die Akkreditierungen für ein Jahr ausgestellt. Als Carola Schneider nach Moskau zurückgekehrt ist, hatten wir drei Korrespondentinnen, die eine Akkreditierung gebraucht haben. Wir mussten dauernd Anträge schreiben. Das ist eine Ermüdungsstrategie. Bei einer niederländischen Kollegin hat man gesehen, dass die Akkreditierung nicht verlängert wurde – wohl aus politischen Gründen. Sie musste gehen. Dieser Faktor Unsicherheit ist immer dabei, und das ist auch so gewollt. Sehr mühsam waren auch die Einreisen.

STANDARD: Die mit Schikanen und Verhören verbunden waren?

Beller: Bei unserer letzten Ausreise war beispielsweise alles in Ordnung. Es ist wie sonst alles in Russland: komplett willkürlich. Du, Paul, hattest meistens Glück, ich bin häufiger bei der Einreise kontrolliert und befragt worden. Teilweise waren es weniger Befragungen, sondern mehr Belehrungen. Man wird auf die Seite genommen, der Pass kommt weg. Manchmal dauert es eine halbe Stunde, manchmal muss man in ein Kämmerlein mitgehen, wo es eine Befragung gibt. Das Handy wird angeschaut, man erhält Fragen, wie man zum Krieg steht. Ich wurde einmal gefragt, ob auch Österreich Waffen an die Ukraine liefert. Sie haben weder Tablets oder Laptops bei sich, sondern schreiben auf irgendeinem Schmierzettel mit. Da weiß man, dass damit Druck ausgeübt werden soll.

STANDARD: Und die Angst schwingt dennoch mit, dass was passiert?

Beller: Natürlich. Vor allem am Anfang, wenn es einem bewusst wird, dass man vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB befragt wird. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles und man lernt, die Antworten so kurz wie möglich zu halten, ruhig zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen.

Krisai: Was absurd ist, weil wir alle Arbeitsgenehmigungen und die richtigen Dokumente haben. Es schlägt einem viel Misstrauen entgegen. Auch beim Drehen auf der Straße wurden die Dokumente öfter kontrolliert. Die Leute haben ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber ausländischen Journalisten, das gab es früher nicht. Das ist aber in einem Land selbstverständlich, das in den Staatsmedien das Narrativ vertritt, dass der Ukraine-Krieg ein Verteidigungskampf gegen den Westen sei.

© Christian Fischer

STANDARD: Wie brenzlig war die Situation für Sie, als Wagner-Chef Prigoschin mit einer Panzerkolonne Kurs auf Moskau genommen hat?

Krisai: Es war nicht klar, was passieren wird, wenn eine Kolonne, bestehend aus schwerem Militärgerät und aufgebrachten Kämpfern, Richtung Moskau marschiert und man nicht weiß, ob sie aufgehalten werden. Natürlich gab es die Planung, noch rechtzeitig aus der Stadt rauskommen zu können. Wir waren aber während unserer gesamten Zeit nie unter Beschuss oder mit Bombenhagel konfrontiert.

STANDARD: Die physische Gefahr hat sich in Grenzen gehalten?

Krisai: Ja, aber bei Prigoschin war die Wahrscheinlichkeit noch am höchsten, dass es unangenehm werden kann. Wie wir gesehen haben, ist alles anders gekommen. Das war eine der überraschendsten Wendungen und hat gezeigt, wie unberechenbar die Dinge in diesem Land sind. Die physische Gefährdung war weniger ein Thema als die unsichtbare Gefahr der Überwachung. Man muss damit rechnen, weiß aber auch nie wirklich, ob sie auch passiert. Die Zensurgesetze geben ein unsichtbares Rahmenwerk vor. Das ist die große Belastung, wenn man in einem unfreien Regime tätig ist.

STANDARD: Reden die Leute auf der Straße noch mit Medienschaffenden, oder ist die Angst mittlerweile zu groß?

Beller: Es kommt darauf an, wo und in welchem Kontext. Wir haben uns immer wieder die Frage gestellt, was zum Beispiel Umfragen auf der Straße mit Kamera und Mikrofon noch bringen. Entweder man hört das wiedergekäute Propagandamaterial, das journalistisch mittlerweile uninteressant ist, oder man bringt Gesprächspartner in Gefahr, wenn man kritische, interessante Stimmen hört. Menschen werden strafrechtlich dafür belangt, was sie im Gespräch mit Medien sagen. Für das Radio ist es eher möglich, aber mit der Kamera ist es sehr schwierig geworden, auf der Straße ad hoc mit Menschen in Kontakt zu kommen.

STANDARD: Macht es einen Unterschied, wenn man aus Österreich kommt? Denn das Land gilt ja als russlandfreundlich.

Krisai: Nicht unbedingt. Russland hat auch Österreich wie alle EU-Staaten auf die Liste der sogenannten unfreundlichen Länder gesetzt. Das gibt eine gewisse Lesart vor. Generell ist Österreich in der russischen Medienlandschaft nicht das Land, über das am meisten berichtet wird. Über Deutschland etwa wird aufgrund der Waffenlieferungen an die Ukraine viel aggressiver berichtet. Einen Art Österreich-Bonus gibt es nicht. Behördenvertretern lehnen in der Regel Interviews ab. Es ist immer wieder vorgekommen, dass bereits vereinbarte Drehs – etwa in Betrieben – abgesagt wurden, weil ein Anruf aus Moskau gekommen ist.

STANDARD: Hat es eine Geschichte gegeben, die Sie noch gerne gemacht hätten, was aber nicht mehr möglich war?

Krisai: Viele (lacht). Fast nur.

Beller: Ich habe eine ganze Liste im Kopf, aber die erste, an die ich denke, ist die Situation der zentralasiatischen Migranten in Russland. Sie sind vor allem in Moskau massivem Rassismus und massiver Diskriminierung ausgesetzt. Die Arbeitsmigranten sind meistens junge Männer, denen die russische Staatsbürgerschaft versprochen wird, wenn sie zum Militär gehen. Es gibt Berichte, dass sie zwangsrekrutiert werden. Diese Geschichte ist sich aus zeitlichen Gründen nicht mehr ausgegangen. Das braucht viel Recherche und das Thema Zwangsrekrutierung ist sehr heikel.

Krisai: Es gibt mittlerweile beinahe mehr Themen, die man nicht machen kann als Themen, die man machen kann. Manchmal ist es überraschend, was noch geht, wenn man etwa in eine Provinz fährt und dort unbehelligt drehen und arbeiten kann. Aber der Arbeitsradius von uns Journalisten wird eingeschränkt. Immer mehr Themen werden der Militärzensur unterstellt. Etwa private Söldnertruppen oder der Bereich der Raumfahrt, also alles, was in Richtung Staatsgeheimnis geht. Der Rahmen engt sich ein.

STANDARD: Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben? Sie schildern etwa das Schicksal von Wiktoria und Wladimir, einer schwangeren Frau und ihres Mannes, deren Kind nach dem Bombardement der Geburtsklinik in Mariupol gestorben ist. Sie hat schwerverletzt überlebt, und Wladimir hat sein Bein verloren.

Beller: Das sind Schicksale, die kann und will man nicht vergessen. Wladimir hat sein Bein verloren und es hat so ausgesehen, dass er aufgrund der Art der Verletzung keine Prothese bekommen kann. Jetzt könnte es aber doch funktionieren. Das sind wenigstens positive Nachrichten, die ihnen das Leben ein bisschen erleichtern. Das ist keine Geschichte, die vorbei ist und die man hinter sich lässt, das bleibt.

Krisai: Ich erwähne immer Ilja Jaschin, einen Moskauer Oppositionspolitiker, der vergangenen Dezember zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil er über die Gräueltaten von Butscha erzählt hat. Ich habe mit ihm ein Interview per Briefwechsel im Gefängnis geführt. Diesen Mut zu haben, sich nicht von den Repressionen beeindrucken zu lassen und für die eigene politische Überzeugung ins Gefängnis zu gehen, das finde ich nachhaltig beeindruckend. Was mir auch noch lange in Erinnerung bleiben wird, ist ein Besuch in Belarus, als wir gemeinsam mit anderen ausländischen Medien in den Minsker Palast von Diktator Alexander Lukaschenko eingeladen wurden. Es war eine der seltenen Möglichkeiten, in dieses sehr abgeschlossene Land zu kommen, das kaum noch Journalisten hineinlässt. Wir wissen so wenig darüber, wie es Menschen in Belarus geht, wo so exzessive Repressionen herrschen.

Beller: Wir haben so viele Menschen mit beeindruckenden Geschichten getroffen. Zum Beispiel waren wir bei einer Familie in St. Petersburg, wo der Mann auf sein Geschäftslokal die Botschaft "Frieden für die Ukraine – Freiheit für Russland" gemalt hat, dafür wurde er verhaftet. Ich habe mit seiner Frau gesprochen. Sie haben fünf Kinder und sind so unglaublich starke Menschen, die zu ihren Prinzipien stehen und sie verteidigen. Das sind keine prominenten Oppositionellen und keine Leute, die sich auf ein Netzwerk verlassen können. Solche Menschen gibt es noch in dem Land, man muss sie nur finden. Das war schon sehr beeindruckend.

STANDARD: Und etwas, das auch noch Hoffnung gibt?

Beller: (seufzt) Hoffnung ist ein starkes Wort. Mir hat es immer Motivation gegeben, dass es einen Sinn hat, dass man vor Ort ist. Diese Leute zeigen einem, dass auch ein anderes Russland existiert, als jenes, das an der Oberfläche zu sehen ist. Es gibt Leute, deren Geschichte man erzählen muss. Aber Hoffnung ist im Zusammenhang mit Russland ein zu starkes Wort.

Krisai: Meistens war es Ernüchterung. Alles, was in Russland passiert, ist Teil dieser riesigen Katastrophe, ausgelöst von Wladimir Putin und seinem Einmarschbefehl in die Ukraine. Sie wirkt sich bis in die letzten Ecken der Gesellschaft aus. Dort hinzuschauen, diesen Leuten eine Stimme zu geben, die in Bedrängnis geraten, das ist der Antrieb.

STANDARD: Wie war die Zusammenarbeit mit Christian Wehrschütz, der nicht unumstritten ist?

Krisai: Wir haben uns oft Liveschaltungen geteilt und von unterschiedlichen Seiten berichtet, die Arbeitsteilung war eine völlig logische.

Beller: Die Korrespondentenbüros haben jeweils ihren Auftrag, und da gibt es relativ wenige Überschneidungen. Die Frage der Zusammenarbeit stellt sich meist nur in Liveschaltungen, sonst gab es nicht so viele Berührungspunkte.

STANDARD: Finden Sie es gut, dass der ORF reagiert hat und einen zusätzlichen Korrespondenten und eine zusätzliche Korrespondentin in die Ukraine schickt?

Beller: Ich finde es grundsätzlich immer gut, wenn der ORF Reporterinnen und Reporter in Gegenden schickt, in denen gerade viel passiert. Egal ob es um die Ukraine oder ein anderes Land geht. (Oliver Mark, 30.9.2023)