Österreichs Wirtschaft wächst 2023 langsamer als der EU-Schnitt. Manche Ursachen überraschen.
Heribert Corn

Es ist Herbst, es ist heiß, und es wird noch viel heißer werden. Diese Woche haben die Lohnverhandlungen der Metaller begonnen, die Gewerkschaft fordert 11,6 Prozent mehr Lohn. Begleitet wird der Auftakt der Verhandlungen von schriller Katzenmusik. Österreichs Wirtschaft ist am Boden, tönt es von allen Seiten.

Die Industriellenvereinigung lässt vorrechnen, dass Österreich rapide an Wettbewerbsfähigkeit verliere. Der arbeitgebernahe Thinktank Agenda Austria twittert angesichts der hohen Belastungen für Unternehmen: "Wer rechnen kann, produziert im Ausland." Das arbeitnehmernahe Momentum-Institut wiederum verschickt Aussendungen dazu, dass sich die Menschen aktuell so wenig leisten können wie noch nie seit 2012. Die SPÖ assistiert und wirft der Regierung "unterlassene Hilfeleistung" vor: Die Wirtschaft schrumpfe, die Arbeitslosigkeit steige, immer mehr Menschen könnten sich "das Leben nicht leisten". FPÖ-Chef Herbert Kickl bringt seine Diagnose so auf den Punkt: "Wir sind in einer Periode des Niedergangs."

Auf den ersten Blick ist das auch alles völlig richtig. Österreichs Wirtschaft dürfte nach jüngsten Prognosen heuer kaum wachsen, das Forschungsinstitut Wifo erwartete Ende Juni ein Plus von gerade noch 0,3 Prozent. Selbst das dürfte zu optimistisch gerechnet worden sein, die nächste Prognose kommende Woche dürfte noch schlechter ausfallen. Die Inflation bleibt hoch. Die Industrie ist in einer Rezession. Zwar läuft es auch im EU-Schnitt nicht rund, aber das Wachstum soll heuer mit 0,8 Prozent europaweit deutlich besser ausfallen als hierzulande – und die Inflation ist im EU-Schnitt sowieso geringer.

Sandelt Österreich ab?

Nein. Ein zweiter Blick auf die Wirtschaftsentwicklung erlaubt es auch, ein anderes, positiveres Bild zu zeichnen. Ob Industrie, Forschung, Arbeitsmarkt, Einkommen oder Staatsverschuldung: Von Niedergang kann keine Rede sein.

Das liegt einmal daran, dass viele Ursachen der aktuellen Probleme nicht in Österreich liegen, nicht hausgemacht sind. Die Zinsen steigen wegen der hohen Inflation überall auf der Welt. Folgerichtig konsumieren die Leute weniger, und die Industrie schraubt ihre Investitionen zurück. Die Flaute ist auch mit den üblichen Konjunkturzyklen zu erklären: Auf den Aufschwung folgt ein Abschwung. 2021 und 2022 hat sich Österreich stark erholt, und die Wirtschaft ist mit je über vier Prozent gewachsen. Der Staat hat die Investitionen in der Pandemie gemäß dem türkisen Motto "Koste es, was es wolle" angekurbelt – damit ist jetzt Schluss.

Im laufenden Jahr nimmt der Staat um sechs Milliarden Euro weniger Schulden auf als noch 2022. Damit fließt weniger Geld an Unternehmen und Haushalte, auch das dämpft die Wirtschaftsleistung. Wie stark, können Ökonomen nicht genau sagen. Würde der Staat aber seine expansive Strategie weiterfahren, wären Österreichs Wachstumsraten wohl nahe dem EU-Niveau.

Es zwickt die Industrie, aber sie brummt noch

Interessant, dass es gerade dort, wo die Krisenrufe besonders laut sind – in der Industrie –, gar nicht so schlecht läuft. Richtig ist zwar, dass die Industrieproduktion aus den gerade erwähnten Gründen heuer rückläufig ist. Aber dennoch: "Österreichs Industrie ist schön aufgestellt, wir haben keine großen strukturellen Probleme. Was momentan zwickt, ist die Konjunktur", erläutert Wifo-Ökonom Marcus Scheiblecker. Er hat die Industrieproduktion Österreichs mit jener Deutschlands, der Schweiz und Dänemarks verglichen.

Deutschland schwächelt vor allem, weil seine Autoindustrie weniger Fahrzeuge am Heimmarkt produziert. Laut Scheibleckers Paper wuchs der Output in der Schweiz und in Dänemark in den vergangenen Jahren dagegen stärker als hierzulande. Das ist jedoch einer einzigen Branche zu verdanken: der Pharmaindustrie, die einen wahren Boom erlebt.

Besonders illustrativ lässt sich das am Beispiel Dänemark zeigen: Der dänische Konzern Novo Nordisk ist mit 400 Milliarden Euro gerade das wertvollste Unternehmen Europas – und zwar wegen des vor zwei Jahren zugelassenen Adipositas-Medikaments Wegovy, bekannt auch als Abnehmspritze. Rechnet man die dänische und schweizerische Pharmabranche weg, "löst sich Österreichs Rückstand beim Industrieoutput auf", heißt es in der Wifo-Expertise.

Demnach sei einer der Erfolgsfaktoren von Österreichs Industrie, dass die Branche breit aufgestellt sei. Im Gegensatz zu Deutschland mit seiner Autoindustrie gebe es keinen so dominanten Sektor. Damit können sich aber auch Strukturprobleme, unter denen gerade die Fahrzeugindustrie leidet, gar nicht so durchschlagen. Insgesamt werden in Österreichs Industrie heuer um rund ein Fünftel mehr Waren produziert als noch 2015.

Ein weiterer Pluspunkt ist die gute Ausbildung von Facharbeitern und Fachkräften, wie der frühere Verstaatlichtenmanager und Notenbankpräsident Claus Raidl anmerkt.

Ein Einwand lautet, dass Österreich bei der Wettbewerbsfähigkeit ins Hintertreffen geraten könnte, weil Inflation und Lohnabschlüsse heuer höher waren als im Rest Europas. Das kann sein, aber derzeit gibt es dafür keine Anzeichen. Laut Statistik Austria ist der Preis für hierzulande produzierte Güter zuletzt sogar unter die Vorjahreswerte gesunken. Die Unternehmen schluckten die Lohnerhöhungen und machen weniger Gewinn, können dafür aber international mithalten. Ökonom Scheiblecker rechnet auf Basis historischer Erfahrungen damit, dass das Tal bei der Konjunktur bald durchschritten sein dürfte.

Der Arbeitsmarkt ist solide

Einer, der es zeitgleich merkt, wenn die Krise in Österreich zupackt, ist Johannes Kopf. Der Chef des AMS hat in seinem Büro einen großen Monitor, der die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigt. Laufend melden sich neue Arbeitslose beim AMS, laufend finden welche einen Job. Kopf sieht also auf seinem Monitor Bewegung in beide Richtungen. Und das ist vielleicht die bisher größte Überraschung: Trotz einer Wirtschaftsflaute bleibt die Zahl der Arbeitslosen niedrig, es herrscht fast Vollbeschäftigung. Zwar gibt es aktuell mehr als 320.000 gemeldete Arbeitslose, aber die allermeisten von ihnen finden rasch wieder Arbeit. Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr. Die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen ist stark zurückgegangen, die Beschäftigung wächst.

Kennzahlen eines kaputten Standorts?
Der Standard

Auch mit dieser Entwicklung steht Österreich nicht allein da, vielen Ländern geht es ähnlich. Ein Grund ist die Alterung der Gesellschaft, die Babyboomer gehen in Pension. Teilzeit nimmt zu. Manche Faktoren lassen sich nur vermuten, sagt der Arbeitsmarktforscher Helmut Mahringer. So dürften viele Unternehmen Arbeitskräfte selbst dann halten, wenn sie sie aktuell nicht voll einsetzen können. Sie wollen später im Aufschwung nicht ohne Fachkräfte dastehen.

Armut nimmt wohl zu. Wie stark, ist aber offen

Ein solider Arbeitsmarkt ist auch deshalb wichtig, weil Teilhabe am Erwerbsleben eine gewisse Absicherung gegen Armut bietet. Die Statistik Austria misst anhand von EU-Vorgaben regelmäßig, wie sich Armut entwickelt. Dabei gibt es Gruppen, die immer stärker von Armut betroffen sind – jede zweite Alleinerzieherin etwa (52 Prozent). Personen aus Haushalten mit Erwerbsarbeit oder Leute ohne Kinder sind generell weniger armutsgefährdet.

Nun tobt eine Debatte, ob wir ärmer geworden sind, aktiviert hat die zuletzt Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mit seinem sattsam bekannten Video (siehe Seite 8). Eine klare Antwort gibt es noch nicht.

Denn die nach den strengen EU-Vorgaben erstellten Daten der Statistik Austria decken nur die Entwicklung bis 2022 ab, und das auch nur teilweise. Diesen Zahlen nach wäre die Armut konstant geblieben. Neuere Zahlen bietet eine andere Untersuchung der Statistiker, allerdings nur mit einer halb so großen Stichprobe, die zudem stark auf subjektive Befindlichkeiten der Befragten aufbaut. Hier wird aber sehr wohl ein Armutsanstieg angezeigt.

Viel Geld von Unternehmen und Staat für Forschung

Die Österreicher gelten zwar als wissenschaftsfeindlich – das bedeutet aber nicht, dass im Lande wenig geforscht wird. "Im Forschungsbereich ist Österreich gar nicht schlecht aufgestellt, wir haben aufgeholt", analysiert etwa der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Ex-Bildungsminister Heinz Faßmann (von der ÖVP nominiert). An der Wirtschaftsleistung gemessen gibt Österreich 3,3 Prozent für Forschung und Entwicklung aus, zwei Drittel davon kommen aus der Wirtschaft, der Rest vom Staat.

Damit steht Österreich mit Schweden und Belgien an der Spitze des EU-Rankings. Die Forschungsfreude der Unternehmen hänge auch mit den hohen staatlichen Förderprämien zusammen, wie auch der Ex-Minister anmerkt. "Ob all das Geld tatsächlich zur Innovation und zur Erhöhung der Produktivität beiträgt, lässt sich freilich schwer überprüfen." Bei der Grundlagenforschung, die "der Humus für die angewandte Forschung" sei, konstatiert Faßmann aber einen Nachholbedarf, die dürfe man nicht aus den Augen verlieren.

Einkommen sind gesunken – sollten aber aufholen

Und wie sieht es mit den Einkommen der Österreicherinnen und Österreicher aus? Diese Bilanz fällt gemischt aus, die Entwicklung erinnert an eine Achterbahnfahrt. 2022 sind die real verfügbaren Einkommen der Leute gesunken – netto um 2,9 Prozent. Das hat der Staat allerdings mit den hohen Zuschüssen, Stichwort Antiteuerungsbonus, weitgehend abgefedert. Löhne in Österreich steigen immer zeitversetzt, bei den Kollektivvertragsverhandlungen wird auf die Inflation der vergangenen zwölf Monate Bezug genommen.

Geht es nach den aktuellen Prognosen der Wirtschaftsforscher, dürfte sich die Entwicklung heuer umkehren – die Einkommen sollen um 1,7 Prozent steigen. Der Verlust des Vorjahres wird demnach erst 2024 kompensiert. Dann soll es dafür kräftig hinaufgehen, vorausgesetzt die Sozialpartner bleiben bei ihren bisherigen Verhandlungsformeln. Wie reich oder arm jemand ist, das bestimmt aber nicht das Einkommen allein. Da geht’s auch ums Vermögen – auch hier gilt es zu differenzieren. Das Finanzvermögen der Österreicher steigt zwar, hat aber zuletzt durch die Inflation an Wert verloren. Die Mittelschicht und besonders die obere Mittelschicht ist laut Zahlen der Oesterreichischen Nationalbank dafür insgesamt etwas reicher geworden, was vor allem am starken Anstieg der Immobilienpreise in den vergangenen Jahren liegt.

Gut aufgestellt, trotz Krise

Kurzum: Der Arbeitsmarkt ist recht solide, die Industrie kämpft zwar gegen die kriselnde Konjunktur, ist aber gut aufgestellt. Hinsichtlich der Forschungsausgaben liegen die Österreicher im EU-Spitzenfeld. Die Einkommen sollen laut Erwartungen der Wirtschaftsforscher aufholen.

Über offene Problemfelder soll all das aber nicht hinwegtäuschen. Ob Fachkräftemangel, Strukturprobleme im Handel, hohe Belastung des Faktors Arbeit oder die (finanziellen) Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt: Baustellen gibt es etliche. "Manchmal überschätzen wir uns, manchmal bemitleiden wir uns", beschreibt Ex-Manager Raidl die derzeit laufenden Diskussionen über und in Österreich. Ein Satz, der vielleicht ein bisschen Abkühlung in den heißen Herbst bringen könnte. (Renate Graber, András Szigetvari, 29.9.2023)