Mutter mit Sohn auf Comic
Eltern erziehen ihre Kinder heute oft lieber bedürfnisorientiert statt autoritär. Das soll die Bindung zwischen Eltern und Kind stärken und das Kind besonders ausgeglichen und glücklich machen.
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Immer mehr Eltern erziehen ihre Kinder bedürfnisorientiert – und sind am Ende völlig erschöpft und frustriert. Wie kann das passieren? Die Bestsellerautorin und vierfache Mutter Nora Imlau kennt das Problem: "Bedürfnisorientierte Erziehung wird oft falsch verstanden. Eltern denken, dass dabei nur die Wünsche des Kindes zählen. Sie gehen dann selbst permanent über ihre eigenen Grenzen. Bedürfnisorientierte Erziehung heißt aber, dass die Wünsche und Bedürfnisse aller Familienmitglieder wichtig sind." Mit ihren Büchern (aktuelles: Meine Grenze ist dein Halt. Kindern liebevoll Stopp sagen) will sie Eltern dazu ermutigen wieder mehr auf sich selbst zu schauen. Wir haben nach den wichtigsten Ratschlägen gefragt, damit bedürfnisorientierte Erziehung funktioniert, ohne, dass die Eltern dabei ausbrennen.

1. Handytimer: Eltern müssen ihre Bedürfnisse checken

Wenn Eltern im Alltag permanent rennen, werden manchmal grundlegende Dinge vernachlässigt, manche essen oder trinken dann nicht regelmäßig. Ein Handytimer, der jede Stunde klingelt, kann Eltern dabei helfen, wieder mehr auf sich selbst zu schauen. Es schadet nicht, im stressigen Alltag kurz innezuhalten und sich zu fragen: Wie geht es mir eigentlich? Brauche ich gerade was?

2. Grenzen setzen: Eltern haben ein Recht darauf, Grenzen zu setzen

Bedürfnisorientierte Erziehung funktioniert nicht ohne persönliche Grenzen. Wer das versucht, landet im Eltern-Burnout. Wir dürfen unseren Kindern aufzeigen, wo sie aufhören und wo wir beginnen, wo unsere individuellen Scham- oder Belastungsgrenzen liegen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Grenzen können auch ganz freundlich, zugewandt und haltgebend sein.

3. Frust aushalten: Kinder dürfen wütend oder traurig sein

Wenn Eltern Grenzen setzen, ist das für Kinder oft nicht schön. Sie weinen, schreien oder werfen mit Sachen um sich. Es ist wichtig, dass Eltern dann nicht wütend werden oder resignieren, sonst kappt die Verbindung zum Kind. Auch das Kind hat ein Recht auf diese Gefühle und braucht in solchen Situationen Eltern, die verständnisvoll und lieb, aber konsequent bleiben. Auf diese Weise lernen Kinder schon früh mit Mikrofrustrationen umzugehen.

4. Kurz nachdenken: Eltern raus aus der Reaktionsfalle

Wenn Kinder etwas wollen, reagieren Eltern oft ohne nachzudenken. Dieser Reflex stammt aus der Babyzeit, wenn Eltern schnell sein müssen, ehe das Kind schreit. Ab dem ersten Lebensjahr des Kindes können Eltern einen Moment warten, ehe sie auf ein Bedürfnis reagieren oder eine Entscheidung treffen. Das hilft ihnen, die eigenen Grenzen besser zu spüren. Dem Kind kann man ruhig erklären, dass man zuerst darüber nachdenken muss.

5. Bedürfnisse sehen: Nicht jedes kindliche Bedürfnis ist ein Auftrag

Für Kinder ist es wichtig, dass wir ihre Bedürfnisse sehen und ernst nehmen. Das bedeutet aber nicht, dass wir als Eltern sofort aktiv werden müssen. Man kann sagen: "Ich sehe, dass du dich mit den Hausaufgaben schwertust und dich das ärgert." Dann kann man aber ruhig seinen Kaffee fertigtrinken und nichts weiter tun. Oft finden die Kinder selbst eine Lösung, was ihre Selbstwirksamkeit unterstützt. Bei Bedürfnissen ist es so: "Gut gesehen ist halb erfüllt."

6. Entscheidungshilfe: Es hilft, sich den Worst Case vorzustellen

Das Kind möchte noch eine Folge Peppa Wutz schauen / mit Sandalen im Winter raus / keinen Sturzhelm beim Fahrradfahren tragen. Eltern fragen sich: Soll ich das jetzt erlauben? Bei solchen Entscheidungen rate ich ihnen, sich folgende Frage zu stellen: Was ist das Schlimmste, was passieren kann, wenn ich Ja oder Nein sage? Diese einfache Frage nach dem Worst Case nimmt Druck raus.

7. Glaubenssätze: Glaubenssätze nicht mit Grenzen verwechseln

"Man soll nicht ...", "Man darf nicht ...", "Kinder müssen ...": Eltern sollten sich fragen, ob es sich dabei um erlernte Glaubenssätze oder um persönliche Grenzen handelt. Gewisse Glaubenssätze darf man als Mama oder Papa loslassen, um sich sein eigenes und das Leben der Kinder leichter zu machen. Etwa: "Mit Essen spielt man nicht." Was aber, wenn das Kind nach dem Spiel alles verputzt?

8. Konfliktvermeidung: Physische Grenzen vermeiden oft Streit

Eltern machen sich einen leichteren Alltag mit Kind, indem sie schon im Vorfeld gewisse physische Grenzen setzen. Beispiel: Das zweijährige Kind läuft auf der Straße immer weg. Also setzt man es schon beim Verlassen des Hauses angeschnallt in den Buggy, und es darf erst im eingezäunten Park heraus und frei umherlaufen. Das klingt fies, nimmt aber den Druck aus der Eltern-Kind-Beziehung, weil schon im Vorfeld ein Konflikt vermieden wird.

9. Tanks füllen: Ausgebrannte Eltern sind keine guten Eltern

Sich um Kinder zu kümmern kostet Kraft. Eltern müssen sich also fragen: Wo finde ich Lebensfreude, Kraft, Wertschätzung, Zuversicht, um im Alltag mit den Kindern nicht auszubrennen? Ist es Sport? Ein Glas Wein mit der Freundin? In Ruhe ein Buch lesen? Ich habe selbst vier Kinder, und ich weiß, dass es vor allem mit kleinen Kindern schwierig ist, etwas für sich selbst zu tun. Aber alleine sich zu fragen, was man braucht, hilft. Auch das ist ein Lernprozess. (Protokoll: Nadja Kupsa, 30.9.2023)